Kociemba
Gottes Zahl
Bild der Wissenschaft 05⁄2011
Der legendäre Zauberwürfel, der "Rubik's Cube", aus den 80er-Jahren ließ einen Darmstädter Mathematik-Lehrer nicht mehr los - bis er "Gottes Zahl" fand.

Der Zauberwürfel hat Herbert Kociemba bekannt gemacht. Das Fernsehen war bei dem Mathematik-Lehrer aus Darmstadt, viele Zeitungen aus dem In- und Ausland berichteten letztes Jahr über ihn. Dabei liegt die Boomzeit des Würfels drei Jahrzehnte zurück. Und längst ist bekannt, wie man ihn aus beliebigen Ausgangsstellungen wieder so dreht, dass alle seine Seitenflächen einfarbig sind - das Ziel des dreidimensionalen Puzzles. 1981 veröffentlichte bild der wissenschaft als eine der ersten Zeitschriften in Deutschland, wie man das Rätsel löst. Damals drehte ganz Deutschland am Würfel, der in allen nicht-deutschsprachigen Ländern "Rubik's Cube" heißt, nach seinem Erfinder Ernö Rubik.

"In den Schulkonferenzen strickten die Frauen - und die männlichen Kollegen drehten am Zauberwürfel", erinnert sich Kociemba, Jahrgang 1954, der damals Referendar an einem Gymnasium in Darmstadt war. Er versuchte die Würfelaufgabe ohne Anleitung zu lösen. Nach drei Wochen hatte er es geschafft. Herbert Kociemba blieb ein begeisterter Zauberwürfel-Dreher. Dann erfuhr er, dass bild der wissenschaft ein Preisrätsel ausgelobt hatte (4/1981, "Der Zauberwürfel ... zum dritten!"): Im Ausgangszustand des Würfels - alle Seiten einfarbig - wurden auf jede Seite in das jeweils mittlere Feld und in eines der umgebenden Felder zueinander parallele Pfeile gezeichnet (siehe Foto auf Seite 66). Dann sollte ein beliebiges Muster gebildet werden. Die Aufgabe bestand darin, den Ausgangszustand - alle Seiten einfarbig, alle Pfeile jeweils parallel - wiederherzustellen, und zwar in möglichst wenigen Schritten. Kociemba knobelte, fand die Lösung, und schickte sie ein. Doch das Problem schien ihm nicht elegant genug gelöst zu sein. Er entwickelte eine Formel, in der die Fehlstellungen der Zeiger als Parameter einer Formel dargestellt wurden - und löste das Rätsel so ein zweites Mal. Auch diesen Ansatz schickte er ein.

30 Jahre später sitzt der Physik- und Mathematik-Lehrer Herbert Kociemba an seinem Schreibtisch. Links neben ihm liegen seine Sammlung verschiedener Zauberwürfel und eine Tüte mit kleinen, bunten Kacheln. Damit ersetzt er die Aufkleber bei seinen Würfeln, weil das besser aussieht und haltbarer ist. Rubik's Cube ist für Kociemba mehr als Mathematik. "Er knarrt so schön, wenn man ihn dreht", sagt der Lehrer und lächelt. "Er wird nie in Vergessenheit geraten, weil er einfach genial ist."

Im Sommer 1981 bekam Kociemba einen Anruf aus der bdw-Redaktion: Er hatte mit seinem Formelansatz gewonnen. Zur Preisverleihung stellte ihn seine Schule für einen Tag frei. In der Redaktion traf er auf die anderen Preisträger, zwei Schüler, und die Jury, bestehend aus dem Mathematik-Professor Kurt Endl, dem damaligen bdw-Chefredakteur Wolfram Huncke, dem Gründer des "Rubik's Cube Club" Rainer Seitz und dem bdw-Redakteur Thiagar Devendran. Die Fotos zum Bericht im nächsten Heft (Ausgabe 8/1981) zeigen Kociemba (mit Vollbart) sowie die zweit- und drittplatzierten Carsten Wohnsdorf und Christian Mader - und den Hauptpreis: eine Ausgabe des Gesamtwerks von Erich Fromm, Psychologe und Philosoph. Moral und Bärte - so war das in den 1980er-Jahren auch bei Mathe-Genies.

In Stuttgart, dem Redaktionssitz, hielt Kurt Endl von der Universität Gießen die Laudatio. "Ihre Methode ist nicht nur sehr elegant, sondern bei einiger Übung auch sehr schnell - ich bin sicher, dass Sie einen festen Platz in der Würfel-Literatur finden wird", sagte er. Heute lächelt Kociemba über diese Einschätzung. "Elegant war meine Methode, aber schnell bestimmt nicht." Der Weltrekord im schnellstmöglichen Zurückdrehen eines Zauberwürfels in seine Ausgangsstellung, im sogenannten Speedcubing, liegt heute bei 6,65 Sekunden. Keiner der Schnelllöser arbeitet mit Kociembas Formel.

Bei der Preisverleihung stellte man die Gewinner gleich vor ein neues Zauberwürfel-Rätsel: das Quaderproblem. Dabei wurde eine Lage des zufällig verdrehten Zauberwürfels so mit Klebeband fixiert, dass sie nur noch als Ganzes bewegt werden konnte. Der Würfel sollte in den Ausgangszustand gebracht werden. Auf Anhieb konnte das weder Kociemba lösen noch ein anderer der beiden Preisträger. Auch dieses Rätsel wurde in bdw veröffentlicht. Damals gab es eine Würfel-Ecke hinten im Heft. Es war die Hochzeit des Zauberwürfels, der die Massen begeisterte. Als nach wenigen Monaten die Euphorie verschwunden war, wurde die Würfelecke in bdw eingestellt. Doch Herbert Kociemba hatte erkannt, dass der Würfel noch viele mathematische Rätsel barg - und die wollte er lösen. In der bdw-Ausgabe, in der über die Preisverleihung berichtet wurde, hieß es am Ende zur kleinstmöglichen Zahl von Drehungen, die man benötigt, um einen beliebigen Würfel wieder in den Ausgangszustand zu bringen: "Mathematisch ist die Frage keineswegs gelöst, und die Klärung dürfte keineswegs einfach sein." Herbert Kociemba beschäftigte sie 30 Jahre lang.

Der Zauberwürfel kann rund 43 Trillionen verschiedene Positionen einnehmen - 43 252 003 274 489 856 000, um genau zu sein. Mit so vielen verschiedenen Zauberwürfeln könnte man die Erdoberfläche 200 Mal zupflastern. Für jede beliebige Stellung gibt es 18 Möglichkeiten für den ersten Zug - und dann jeweils wieder 18 für jeden folgenden. Bald nannten Mathematiker die Zahl der Drehungen, die maximal notwendig sind, um jedweden Zauberwürfel wieder in die Ausgangsposition zu bringen, "Gottes Zahl": Nur ein allwissendes Wesen könnte genau diesen optimalen Weg mit möglichst wenigen Schritten bei jedem Würfelmuster wählen. "Es schien lange Zeit unmöglich, die Frage nach Gottes Zahl zu beantworten, auch noch in den 1990er-Jahren", sagt Kociemba. Doch er gab nicht auf und kaufte sich immer wieder einen neuen PC mit größerer Rechenleistung. Der Apple IIe, 1982 erworben, hatte einen Hauptspeicher von 48 Kilobyte und der Atari ST, angeschafft 1990, 1 Megabyte. Kociemba näherte sich der Gotteszahl.

1992 kam der erste Durchbruch: Kociemba schrieb einen Zwei-Phasen-Algorithmus. Der Trick dabei: Der Würfel wird aus einer beliebigen Stellung in definierte Zwischenformationen gebracht. Die Zahl der anschließend möglichen Stellungen wird dadurch auf 20 Milliarden eingeschränkt. Die vorher üblichen Methoden benötigten im Durchschnitt 30 bis 40 Drehungen, um jede Würfelaufgabe zu lösen. Kociembas Programm schaffte es meistens mit 20. Der Mathelehrer veröffentlichte seine Strategie in einem Heft, das aussieht wie eine Schülerzeitung aus den 1980er-Jahren. Sein Titel: "Cubism for Fun". Herausgegeben wird es vom Nederlandse Kubus Club, einem 1981 gegründeten holländischen Rätselverein.

Kociembas Zwei-Phasen-Algorithmus machte Furore unter Mathematikern, doch Kociemba bekam davon erst einmal nichts mit. Denn es gab ja noch kein Internet. Aber an Universitäten und in Newsgroups, in die man sich per Telefon einwählen konnte, wurde darüber diskutiert, und man probierte den Algorithmus. 1995 gelang es Michael Reid, heute Mathematik-Professor an der University of Central Florida in Orlando, mit dem Zwei-Phasen-Algorithmus optimale Lösungen für Würfelstellungen zu finden und zu zeigen, dass die Gotteszahl nicht größer als 29 sein kann.

Es dauerte noch zehn Jahre, bis der rumänische Mathematiker Silviu Radu nachwies, dass es höchstens 28 Züge sind. Inzwischen hatte Herbert Kociemba ein Computerprogramm namens "Cube Explorer" ins Internet gestellt, das auf der Basis seines Zwei-Phasen-Algorithmus die Lösung für jeden Würfel berechnet. Das geschah zunächst nur näherungsweise, aber mit der ständigen Leistungszunahme der Heimcomputer schaffte das Programm es bald, optimale Lösungen zu finden.

Bis heute entwickelt es Kociemba ständig weiter. Mittlerweile kann es auch das Zeigerproblem lösen - jenes Rätsel aus bild der wissenschaft von 1981. Man filmt die Farben der Würfelflächen mit einer Webcam und das Programm zeigt dann, wie sich diese Würfelaufgabe lösen lässt. "Aber eigentlich interessierte mich das alles schon länger nicht mehr", sagt Kociemba. Gemeinsam mit dem kalifornischen Informatiker Tom Rokicki wollte er vielmehr das letzte große mathematische Rätsel des Würfels lösen und Gottes Zahl finden. Rokicki optimierte Kociembas Zwei-Phasen-Algorithmus mit folgender Idee: Wenn man ein Puzzle löst, verwendet man die meiste Zeit darauf, falsche Wege zu gehen. Man probiert etwas aus, merkt, dass es nicht korrekt war - und geht den Weg wieder zurück. Aber beim Zauberwürfel führt jede falsche Drehung zur Lösung einer anderen Stellung. Rokicki ersann einen Weg, wie sich ein Computerprogramm einen falschen Weg als einen richtigen für eine andere Lösung merken kann. Schritt für Schritt näherte er sich der Gotteszahl.

2008 zeigte er, dass die Zahl nicht größer als 25 sein kann. Gleichzeitig schrieb er im Internet, dass es ihm an Rechenleistung fehle, um der Gotteszahl noch näher zu kommen. Daraufhin meldete sich ein Mitarbeiter von Sony Pictures. Er bot an, dass Rokicki nachts die Computer benutzen könne, auf denen sonst Trickfilme entstanden. Wenige Monate später zeigte Rokicki, dass die Gotteszahl höchstens 22 sein kann. Um das Rätsel endgültig zu lösen, holte er Kociemba mit ins Boot. Die beiden programmierten fortan gemeinsam, verbunden über das Internet.

Die 43 Trillionen verschiedenen Würfelpositionen lassen sich in zwei Milliarden Gruppen unterteilen, deren Positionen aus mathematischer Sicht miteinander verwandt sind. "Wir haben uns Gedanken gemacht, wie sich diese Zahl weiter reduzieren lässt. Wir konnten sie von 2 Milliarden auf 55 Millionen einschränken", erinnert sich Kociemba. Doch auch dafür wären noch immer 35 Jahre Rechenzeit eines modernen PCs nötig gewesen. Nur weil Google viele Rechner zur Verfügung stellte und Rokicki Kontakte zur Firma hatte, konnte die Gotteszahl schneller gefunden werden. Anfang August 2010 war es soweit: Rokicki und Kociemba verkündeten zusammen mit Morley Davidson, einem Mathematiker der University Kent, der einige Details beigesteuert hatte, und John Dethridge, dem Computer-Experten von Google: Die Gotteszahl ist 20.

Das Medienecho weltweit war groß. Viele Zeitungen berichteten darüber, der Hessische Rundfunk stand mit seinem Kamerateam sogar in Kociembas Arbeitszimmer. "Das war schon ganz nett", sagt Kociemba. "So viel Aufmerksamkeit bekommt man ja nicht oft als Lehrer." Manche Kollegen gratulierten, die meisten verstanden aber nicht, worum es bei der Gotteszahl ging. "Die Zahl 20 hat eigentlich niemanden vom Hocker gehauen", meint Kociemba. "Viele Kollegen haben sich erinnert, dass sie auch mal einen Zauberwürfel besaßen und an der Lösung scheiterten." Die meisten fanden es eher "exotisch", dass er sich noch heute mit dem Zauberwürfel beschäftigt. "Dabei war das für die Wissenschaft ein Meilenstein. Diese Erkenntnis wird natürlich kein Menschheitsproblem lösen. Aber die Frage nach dem Nutzen stellt sich für mich nicht. Forschung ist einfach spannend."

Fertig ist Kociemba mit dem Zauberwürfel noch immer nicht. "Ich möchte als Nächstes auf meiner Internetseite die Suche nach der Gotteszahl so dokumentieren, dass das Thema noch leichter für Laien verständlich wird", sagt er. "Den Cube Explorer werde ich weiter verbessern, aber er wird wohl keine Schlagzeilen mehr machen." Kociemba zögert einen Moment, dann sagt er: "Vielleicht sollte ich auch mal etwas ohne Computer machen - zum Beispiel mehr Gitarre spielen."

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