Der
Baumeister
Frankfurter
Rundschau 21.12.07
Stefan Häfner
ist geistig behindert. Er kann kaum lesen und schreiben, aber er hat
eine "Stadt der Zukunft" entworfen. Seine Modelle ernten auch
bei Architekten Anerkennung
  
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Auf
Auftritte wie diesen hat Stefan Häfner 20 Jahre gewartet. Er,
48, Halbglatze, schlaksig, steht in einem Saal, zehn Menschen um ihn
herum, und erklärt sein Lebenswerk. Hinter ihm erhebt sich, 1,70
Meter hoch, 1,20 breit, 1,10 lang, sein Modell eines modernen Kaufhauses,
Teil einer ganzen Serie von Gebäuden mit dem Titel "Stadt
der Zukunft", die er erschaffen hat. Aus Häfners Kaufhaus
ragt im ersten Stock ein großer Erker, im fünften und im
sechsten Geschoss gibt es Dachterrassen, der Abschluss zum Dach hin
gleicht einem Flughafentower.
Wenn jemand sich dem Modell nähert, sagt Häfner: "Des hab ich
aufgebaut." Er spricht Hessisch, in etwa so breit wie der Comedian Martin
Schneider. "Wenn bei normalen Häusern das Hochwasser kommt, steht
die Bude unter Wasser. Aber nicht bei mir." Er zeigt auf den unteren Teil
des Gebäudes - es steht auf Stelzen. Anerkennendes Nicken bei den Betrachtern.
Ein Pärchen, beide Mitte 30, sie im Kostüm, er im Cordanzug, drücken
ihre Gesichter an die Fenster des Modells. Im Innern stehen drei klitzekleine
Quader, in die Häfner Löcher gebohrt hat. "Was ist das ",
fragt der Mann. "Das sind Getränkekisten - Fanta, Cola, Bier",
sagt Häfner. "Wahnsinn", murmelt der Mann, und seine Frau sieht
aus, als würde sie vor Rührung gleich anfangen zu weinen.
Häfner hat das Kaufhaus, 50 Räume, inklusive Kino, eingerichtet, Zimmer
für Zimmer: 188 Toiletten mit Mini-Kloschüsseln, das Kino mit 100
Sitzplätzen und die Getränkeabteilung eben mit etlichen Getränkekisten,
in Gelb, Grün und Rot, je ein Quadratzentimeter groß. Alle Bauteile
sind aus Fotokarton gefaltet und geklebt, ein Jahr hat er für alles gebraucht.
Häfner, in der Rechten ein Glas mit Orangensaft, die linke Hand in der
Hosentasche, beantwortet Fragen - und wenn er schweigt, lächelt er vor
sich hin.
An diesem Abend findet eine kleine Ausstellung des "Atelier Goldstein",
einer Gruppe von geistig behinderten Künstlern, in Frankfurt statt. Hochwertige
Kunst, ohne jeden Behinderten-Bonus, nennt Gründerin Christiane Cuticchio
das, was hier zu sehen ist.
Häfners Modelle wurden schon im Madmuseum in Lüttich gezeigt, im Museum
Dr. Guislain in Gent, zurzeit sind die meisten im Kleisthaus in Berlin zu sehen.
Einmal waren sie gemeinsam mit Arbeiten des visionären japanischen Architekten
Kisho Kurokawa ausgestellt - im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt. Dessen
Direktor, Peter Cachola Schmal, lobt Häfners eigentümlichen Stil -
und betont, dass die Modelle des Laien durchaus den Anforderungen der Statik
gerecht würden.
Bis Häfner seine Werke ausstellte, war es ein weiter Weg, ein Weg, der
zunächst so verlief, wie der vieler Behinderter: Sonderschule, stumpfsinnige
Arbeiten in Behinderten-Werkstätten, Freizeit vor dem Fernseher.
Es ist Dienstagmorgen, 8.30 Uhr, "Praunheimer Werkstätten", in
Frankfurt Fechenheim. Hier, in einem circa 120 Quadratmeter großen Raum,
mit 22 Tischen, Metallspinden in der Ecke und einem Brennofen für Tongefäße
in der Mitte, arbeitet Häfner - oder vielmehr: sollte er arbeiten, zum
Beispiel überschüssige CDs zerstören, Bar-Code-Etiketten ablösen
oder Teile aus vorgeschnittenen Styroporplatten lösen.
Aber heute gibt es, wie so oft, nichts zu tun für die zehn Behinderten.
Einer hat seinen Kopf auf den Tisch gelegt, sein Tischnachbar blättert
einen Otto-Katalog durch. Zwei Frauen starren vor sich hin. Aus dem Radio kommt
Jon Bon Jovi, "I want to lay you down in a bed of roses...", Häfner,
seit fast 30 Jahren in dieser Behinderten-Werkstatt, redet dagegen an: von seiner
Dusche, die leckt. Aber niemand scheint zuzuhören. Dann schweigt auch er.
Meistens, wird er später sagen, denke er hier über seine Modelle nach. "Pause",
ruft der Zivi. Häfner kommt jeden Arbeitstag in die Werkstatt, sonst würde
sein Arbeitgeber ihm einen Teil des Monatsgehalts abziehen. 150 Euro bekommt
er hier, dazu eine Erwerbslosenrente von 730 Euro.
Nach Feierabend, Besuch bei Häfner in seiner Zwei-Zimmer-Wohnung in Frankfurt
Bergen-Enkheim. Radiomusik, eine Disco-Ampel blinkt in der Ecke, es ist sauber
und aufgeräumt. Häfner hält seinen Haushalt alleine in Ordnung,
ein Betreuer kommt zweimal in der Woche, hilft bei Kontoführung und dem
Ausfüllen von Formularen. Auf dem Wohnzimmertisch liegt Häfners Kalender.
Mit zwei Skizzen hat er sich die Termine für den folgenden Tag notiert.
Ein stehendes Strichmännchen unter einer Bogenlampe - "duschen".
Ein liegendes auf einer Pritsche - "Termin bei der Krankengymnastin". "KG" hat
er dahinter geschrieben, seine Schrift ist krakelig, gleicht der eines Grundschülers.
Stefan Häfner wurde 1959 geboren, mit zwei X-Chromosomen im Genom, eines
zu viel für einen Mann. Klinefelter-Syndrom nennen das die Mediziner. Die
Folgen dieser Anomalie im Erbgut sind bei den Betroffenen sehr unterschiedlich.
Häfner war als Kind oft krank, seine Zähne waren schlecht. Dann bei
der medizinischen Untersuchung vor der Einschulung diagnostizierten die Ärzte
eine geistige Behinderung. Häfner besuchte ab der ersten Klasse die Sonderschule.
Dem Deutsch-Unterricht konnte er nie folgen. Während seine Klassenkameraden
schrieben und lasen, malte Häfner.
Er blickt durch seine blau getönte Brille nach unten, den Kopf auf die
Brust gesenkt. "Da war ich immer der Zurückgebliebene." Er, der
sonst meist heiter gelaunt wirkt, hört sich für einen Moment traurig
an. Häfners Eltern, Inhaber eines Spielwarengeschäfts, versuchten,
seine Behinderung zu verheimlichen. "Am liebsten würde ich meine Jugend
wiederholen", sagt er.
Nur wenn er bastelte, war ihm seine Behinderung nicht anzumerken - in "Werken" hatte
er immer ein "sehr gut". Nach der 8. Klasse verließ er die Sonderschule
und begann in der Behindertenwerkstatt zu arbeiten. Häfner erledigte alle
Aufgaben zuverlässig. Bald durfte er verantwortungsvolle Arbeiten übernehmen,
wie Paletten mit dem Hubwagen durch den Betrieb bugsieren und selbstständig
an einer Maschine Parfum abfüllen. Aber das war das Ende der Karriere,
für seine anderen Talente gab es hier keine Verwendung.
Mit 28 zog er bei seinen Eltern aus und in eine betreute Wohngruppe. An den
Abenden saß er oft in seinem Zimmer, er wäre gerne ausgegangen, aber
da war niemand, der ihn begleitet hätte. Seine Mitbewohner saßen
ständig vor dem Fernseher. Die Klassenkameraden von früher meldeten
sich nicht mehr. Auf dem Weg zur Arbeit ging er an eintönigen Wohnblocks
vorbei, passierte er Einkaufszentren mit Beton-Fassaden. Die Häuser könnten
viel interessanter aussehen, dachte er sich. Häfner begann, sich eine eigene
Welt zu schaffen.
Häfner holt ein Fotoalbum im Format 15 mal 18 Zentimeter aus dem Schrank.
Die Bilder darin sind schon ein wenig vergilbt, auf den ersten Blick scheint
darauf ein MiniaturRaumschiff zu sehen zu sein, das in einem Kinderzimmer mit
70er-Jahre- Einrichtung gelandet ist. Auf einer grellbunten Tischdecke steht
ein glänzendes Gebilde, Häfners erstes Modell eines Zukunftshauses,
Material Pappe, angemalt mit silberner Farbe, erbaut und wieder eingerissen
1983. "Was ist denn das für ein hässlicher Staubfänger ",
hatte sein Vater bei einem Besuch gesagt. Als er gegangen war, nahm Häfner
seine Kamera und fotografierte das Modell von allen Seiten. Dann nahm er ein
Messer. Er trennte die Außenwände ab und schnitt Löcher in eine
Zimmerdecke nach der anderen, so dass ein Schacht entstand, der vom dritten
Stock bis ins Erdgeschoss reichte. Durch den warf er die Inneneinrichtung, bevor
er das Skelett des Hauses niederriss. Er war traurig, ja, aber wenn er schon
abreißen musste, dann wollte er es wenigstens so machen wie in der Realität.
Samstagmorgen. Häfner betritt einen Baumarkt im Frankfurter Osten. Ein
bärtiger Mann kommt ihm entgegen. "Heute kaufe ich nur was Kleines!",
ruft ihm Häfner zu. "Ja, ja", sagt der Baumarktangestellte und
geht schnell weiter.
Häfner braucht Hilfe, denn er kann kaum lesen. Er dreht sich um die eigene
Achse, wirkt ein wenig verloren zwischen den riesigen Regalen. Dann lächelt
er und steuert auf einen großen Mann in roter Weste zu: "Hallo Herr
Römer." Michael Römer, 45, Schnauzbart, Vokuhila, ist so etwas
wie Häfners persönlicher Verkäufer. Die beiden haben sich vor
zehn Jahren kennen gelernt, in einem anderen Baumarkt. Römer war der Einzige,
der Lösungsvorschläge machte, wenn Häfner ein handwerkliches
Problem hatte. Eines Tages war Römer nicht da, seine Kollegen sagten, er
arbeite jetzt woanders. Häfner erfragte, wo - und folgte Römer in
den neuen Baumarkt. Auf dem Nachhauseweg sagt Häfner: "Den habe ich
ausgekundschaftet" - und lächelt. Heute weiß er genau, an welchen
Tagen Römer arbeitet. "Der Herr Römer hat mir neulich im Bus
hallo gesagt." Er wirkt stolz.
Später in Häfners Wohnzimmer. Er zeigt ein Fotoalbum, in dem seine
Stadt der Zukunft dokumentiert ist, Gebäude für Gebäude, Stockwerk
für Stockwerk. "Das hier ist die Fabrik", Häfner zeigt auf
ein Bild, auf dem auf einem Stockwerk zwei getrennte Arbeitsräume zu sehen
sind - und eine Kantine. "Hier arbeiten Behinderte und Normale in einem
Haus. Die vertragen sich doch eigentlich ganz gut, die muss man nicht trennen."
Zehn Minuten später steht Häfner in seiner Werkstatt. An der Wand
hängen akkurat gezeichnete Bau-Pläne, vor ihm auf dem Tisch die Massenfertigung
der Heizkörper aus Papp-Streifen. Häfner nimmt einen kleinen Würfel
in die Hand und malt mit rotem Filzstift vier Kreise auf die Oberseite - ein
E-Herd.
Nach dem Abriss seines ersten Modells dauerte es zehn Jahre, bis er wieder anfing
zu basteln. Dazwischen liegt eine Zeit der Emanzipation von seinen Eltern. Häfner
war selbst zum Arzt gegangen, um etwas über seine Krankheit zu erfahren
- und der hatte ihm Mut gemacht, sich in allem zu versuchen, was ihm Spaß machte.
Also baute er wieder, alleine und unbeachtet. Eines Tages las sein Betreuer
ihm vor, dass es bei der Lebenshilfe Frankfurt einen neuen Kunstkurs gebe. Häfner
meldete sich an, traf dort auf Christiane Cuticchio. Die studierte Bühnenbildnerin
hatte gerade das "Atelier Goldstein" gegründet, Frankfurts erstes
Atelier für behinderte Künstler. Häfner zeigt Fotos von seinem
Modell - und sie war begeistert. "Endlich bin ich da mal gelobt worden",
sagt er. Sein Modell wurde ins Atelier geholt, seit dem Jahr 2000 arbeitet Häfner
dort. Fragt man ihn, ob er sich wünsche, dass seine Entwürfe in die
Realität umgesetzt werden, sagt er: "Da müsste sich erst einmal
jemand finden, der das bezahlt."
Donnerstagnachmittag in einem Bürogebäude an einer großen Frankfurter
Ausfallstraße, erster Stock. Hier ist das "Atelier Goldstein" im
Moment untergebracht, kostenlos, solange bis es einen neuen Mieter gibt . Häfner
steht in seinem Atelier-Raum, hat die Klebepistole im Anschlag. Hier im Atelier
setzt er die Bauteile zusammen, die er in seiner Werkstatt vorgefertigt hat.
Neben ihm steht das Kaufhaus, in den Ecken des Raumes Teile einer Brücke,
eine Feuerwache und eines Krankenhauses. "Wie lange darf ich noch ",
fragt Häfner. "Noch eine Viertelstunde!", ruft Melanie Schmitt,
30, Kunstpädagogin, aus dem Nebenraum. Seit fünf Jahren betreut sie
Häfner. "Sein erstes Modell war so groß, dass es nicht durch
die Tür passte, als es fertig war", erzählt sie. "Wir mussten
es zersägen und wieder zusammen bauen, um es zur ersten Ausstellung zu
bringen." Seitdem misst Häfner die Türen aus, bevor er mit der
Arbeit beginnt. Weil die Modelle so schwer wurden, dass man sie kaum noch tragen
konnte, entwickelte Häfner eine Leichtbauweise mit Hohlteilen aus Pappe. "Er
erkennt ein Problem - und löst es", sagt Melanie Schmitt.
Um 19 Uhr wird das Atelier geschlossen, Melanie Schmitt und Stefan Häfner
steigen in die Straßenbahn. "Was macht deine Freundin ", fragt
sie ihn. "Mit der hab ich gestern Abend telefoniert, die kann es kaum noch
erwarten, mich zu sehen!" Er schüttelt den Kopf, grinst. Im November
war er mit Melanie Schmitt in Hamburg, zwei Wochen arbeitete er in einem Schaufenster
an seinen Modellen, ein Kunstprojekt. Am Rande der Ausstellung lernte er Claudia
kennen, 51, ebenfalls geistig behindert. Nach Weihnachten wird Häfner sie
besuchen. Das Zugticket ist schon gelöst. Die Straßenbahn hält. "Ich
bringe ihr ein paar Bilder von meinem Modell mit." Er steigt aus und verschwindet
in der Dunkelheit. |