Müller ist wohl der einzige, der als Protagonist des Kapitalmarktes
solch fundamentale Kritik übt und er ist nicht irgendwer. Vielen
gilt der 40-Jährige als Gesicht der Börse. Jahrelang saß er
unter der Anzeigentafel, auf der die Tageskurve des Deutschen Aktienindex
abgebildet ist. Für die Fotografen machte er immer das passende
Gesicht zum Kursverlauf, Bilder von ihm, mal zerknirscht, mal fröhlich,
erschienen weltweit in Zeitungen, er wurde vom einfachen Kursmakler
zu „Dirk of the Dax“. Jetzt hat er ein Buch geschrieben, „C(r)ashkurs“,
Generalabrechnung mit dem Finanzsystem einerseits, Anlageratgeber andererseits.
Es wurde von der Krise kurz nach Erscheinen im Januar in die Bestsellerlisten
katapultiert. Wenn es nach der Wirtschaftslage geht, wird es dort wohl
noch eine Weile bleiben – wer weiß dieser Tage schon
mit Bestimmtheit, dass Altersvorsorge und Ersparnisse sicher sind?
Die größte Buchhandlung Frankfurts, hundert Meter entfernt
von der Börse. Dirk Müller stellt sein Buch vor. Vor den
Regalen mit der Informatik-Literatur: voll besetzte Stuhlreihen, links
und rechts davon stehen die Zuschauer. Müller nimmt das Mikrofon
in die Hand. „Dass Sie alle wegen mir gekommen sind, ehrt mich
sehr.“ Er lächelt, seine mit Gel hochgestellten grauen Haare
und die goldene Krawatte glänzen im Neonlicht. Müller gibt
sich bescheiden, ist eloquent und er weiß, was das Publikum hören
will: einfache Erklärungen für die Finanzkrise. „Uns
werden viele Geschichten aufgetischt, die nicht stimmen“, sagt
Müller. „Ich will Ihnen zeigen, was wirklich dahinter steckt – aber
glauben Sie auch mir nicht alles, vertrauen Sie auf Ihren gesunden
Menschenverstand.“
Applaus
für Müller, hier steht einer, der die Wirtschaftskrise
erklärt, ohne sich über seine Zuhörer zu stellen, das
kommt gut an beim bunt gemischten Publikum. Junge Männer mit Krawatten
sitzen da, ältere Damen mit Seidenschals, graumelierte Herren
in sportlichen Windjacken. Müller rechnet vor, dass die Arbeitslosenzahlen
geschönt werden, indem Menschen, die sich, finanziert von der
Agentur für Arbeit, weiter bilden oder die Ein-Euro-Jobs machen,
nicht mitgezählt werden. Statt den offiziellen 3,6 Millionen kommt
er auf 6,2 Millionen Arbeitslose. „Wenn die wüssten wie
viele sie sind, würden sie die Schuld nicht mehr bei sich suchen,
sondern sich wehren.“ Zuhörer schütteln betroffen ihre
Köpfe. Dann sagt Müller: „Wie die Bundesregierung die
Arbeitslosigkeit halbiert, das ist das größte Wunder seit
Moses das Rote Meer geteilt hat.“ Ein paar Zuhörer lachen.
Bittere Pillen und flotte Sprüche, das ist das Müller-Konzept. „Soll
ja auch Spaß machen, das Ganze“, sagt er.
Seine Thesen allerdings sind alles andere als spaßig. „Es
wird noch weiter abwärts gehen mit der Wirtschaft, die Rezession
ist noch gar nicht in Deutschland angekommen.“ Eine Frau Mitte
50, elegante Kleidung, schließt die Augen, ihr Kopf sackt nach
unten. Ein Mann fragt: „Mir hat jemand gesteckt, ich solle Ende
des Jahres kein Bargeld mehr haben – was sagen Sie dazu?“ Müller
schüttelt den Kopf. „Wir sind im Moment in einer Phase der
Deflation“, sagt er. „Halten Sie ihr Geld fest – und
investieren Sie in Aktien, wenn die Inflation kommt.“ In diesem
Moment ist Dirk Müller der Ratgeber, der verunsicherten Verbrauchern
Anlagetipps gibt. Aber kurze Zeit später wandelt er sich zum Propheten
der Apokalypse. „Unser Wirtschaftssystem wird kollabieren, es
ist nur die Frage, wann: jetzt oder in wenigen Jahren.“ Das passiere
zwangsläufig bei allen Finanzsystemen von Zeit zu Zeit, in denen
es Zinsen fürs Geld gebe.
Wirtschaftswissenschaftler, die man mit Müllers Thesen konfrontiert, reagieren irritiert. Wie die Arbeitslosenzahlen sich errechneten, dass sei doch transparent, sagt Martin Weber, Professor für Finanzwirtschaft an der Uni Mannheim. „Und dass der Zinseszins Schuld sein soll an der Krise, ist absurd - ohne Zinsen würde niemand Geld hergeben und die Wirtschaft würde still stehen.“ Müller vergesse bei seiner Argumentation außerdem die Inflation, die den größten Teil der Zinsen aufzehre. „Ich weiß nicht, wie man so etwas behaupten kann, dafür gibt es doch gar keine Belege“, sagt Weber.
Doch für seine Zuhörer ist Müller der einzige, der sich traut, die Wahrheit auszusprechen. Signierstunde nach der Lesung: von links und rechts stehen die Menschen Schlange. Ein junger Mann in Anzug und Krawatte drückt Müller fest die Hand und sagt bedeutungsschwer: „Bitte bleiben Sie, wie Sie sind.“ Andere brauchen Lebenshilfe. „Ich bin sehr zufrieden mit meinem Job als Ingenieur“, sagt ein Mann. „Jetzt habe ich ein Angebot aus der Schweiz – bin ich dort sicherer als in Deutschland?“ Müller rät, in Deutschland zu bleiben, die schweizer Banken seien noch stärker von der Krise betroffen als die deutschen. Ein anderer sagt, Müller solle aufpassen, ein Freund von ihm sei wegen ähnlicher Kritik für fünf Jahre im Gefängnis gelandet. „Wegen was wurde er verurteilt?“, fragt Müller. „Das kann ich in der Öffentlichkeit nicht sagen“, sagt der Mann. Müller nickt. „Ich weiß, dass ich mich mit der Veröffentlichung des Buchs in Gefahr begebe.“ Später wird er sagen, dass es in seinem Leben seltsame Vorfälle gegeben habe, über die er nicht sprechen möchte. „Sonst würde doch jeder denken, dass ich damit Promotion für mein Buch machen möchte.“ Die Polizei sei eingeschaltet.
Wenige Tage später. Dirk Müller sitzt an seinem Arbeitsplatz an der Börse. 16 Makler vor jeweils vier Bildschirmen, bei einem läuft auf einem Monitor die 80er-Jahre-Fernsehserie „Hart aber herzlich“. Jeder ist für einige Aktien zuständig, per Computer bekommt er Kauf- und Verkaufswünsche – und legt auf der Basis von Angebot und Nachfrage den Kurs fest. „Das Urgeschäft der Börse“, nennt Müller das. Die Makler legen Wert darauf, keine Banker zu sein. „Mit denen haben wir so viel zu tun wie KFZ-Mechaniker mit Schreinern“, sagt ein Kollege, der neben Müller sitzt. Plötzlich ein Schrei. „Achtung - neue Zahlen!“ Die anderen Makler lachen. Geschäftsklimaindex, Arbeitslosenzahlen, die Verbraucherdaten, es gibt täglich eine Flut von Wirtschaftsdaten, aber sie haben so wenig Auswirkung auf die Aktienkurse, dass sich die Makler darüber lustig machen, wenn neue Zahlen veröffentlicht werden.
Ein Journalist vom Hessischen Rundfunk spricht Müller an, ob er gleich Zeit habe für einen O-Ton? Wenige Minuten später auf der Empore über dem Börsensaal. Hier sitzen die Radio- und Fernsehsender, von hier aus werden die Statements über die Lage der Finanzmärkte in die Republik gesendet. „Ey Schätzjen“, begrüßt ihn eine Moderatorin im Hosenanzug. „Oho - schick!“, säuselt Müller. „Hast du Zeit für einen O-Ton?“, fragt die Moderatorin. Müller streicht seine Krawatte auf seinem Bauch glatt und lächelt. Alles dreht sich hier um ihn. „Ja, klar, was machen wir?“ Die meisten Menschen hätten wohl zuerst gefragt, um welches Thema es gehen soll, bevor sie sich zu einem Interview bereit erklärt hätten, bei Müller ist es umgekehrt. Er setzt sich vor das Mikrofon. Bundesbankpräsident Axel Weber habe gesagt, das Schlimmste sei vorbei, die Krise überwunden. Was Müller davon halte? „Diese Schönrederei höre ich schon seit Monaten – und inzwischen hat sich der Dax fast halbiert, das ist doch Kappes.“ Noch während er spricht, kniet sich der nächste Journalist vom nächsten Sender mit einem Mikrofon vor ihn. Er muss nicht um eine Antwort betteln. Müllers Statement zur Scheffler-Conti-Übernahme? „Das ist eine absolute Harakiri-Aktion und am Ende muss der Steuerzahler den Hintern hinhalten.“ Der Radiojournalist kniet immer noch vor ihm, er grinst über das ganze Gesicht, Müller, die O-Ton-Maschine, hat erstklassige Ware geliefert, für drei Sender in zehn Minuten. Müller wirkt aufgeputscht. „Na, da hab ich euch wieder schön die Blutgrätsche gemacht“, sagt er.
Dirk
Müller ist wieder auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz. Ein
Kollege spricht ihn an. „Sag mal, hast du gestern auf HR 3 erzählt,
dass die Welt untergeht?“ „Ja, ich hab gesagt, die Erde
wird nächste Woche aufhören sich zu drehen“, antwortet
Müller. „Musst ja auch dein Buch verkaufen“, sagt
der Kollege. „Darum geht es nicht.“ Müller wird ernst,
auf einen Marketing-Strategen für sein Buch will er nicht reduziert
werden. „Ich hab einfach gesagt, wie es ist: Es geht abwärts
und man sollte jetzt besser keine Aktien haben“, sagt er. „Ich
habe aber auch erklärt, dass die Krise eine Chance ist für
Menschen, die zum richtigen Zeitpunkt investieren.“ „Hab
ich meiner Frau doch gleich gesagt: so schlimm wird es nicht sein,
dass der jetzt bei den Zeugen Jehovas ist.“ Er lacht und verabschiedet
sich.
Fragt man die Kollegen auf dem Parkett, was sie von Müllers Buch
halten, dann trifft man solche, die genervt erscheinen vom ständigen
medialen Interesse an „Mister Dax“ und sich nicht äußern
wollen. Man trifft auf Makler, die seinen Thesen zu wirtschaftlichen
Zusammenhängen folgen, wenn sie auch sehr simplifiziert seien – und
die sagen: „Aber wo es um Politik geht, da hätte er sich
einige Spekulationen doch besser gespart.“ Und man trifft auf
ziemlich viele Menschen, die sagen, dass sie gut mit Müller können.
Die halbe Börse scheint mit ihm verkumpelt zu sein, mindestens.
Müller ist ein Mann mit festen Gewohnheiten, jeden Freitag isst
er auf dem Wochenmarkt vor der Börse, sonst in einem Lokal daneben.
Heute bestellt er das Business-Lunch für 9,80 Euro. Auf dem Tisch
liegt ein Flyer mit der Werbung für eine neue After Work-Party.
Soul und House-Musik gibt es, ein Flying-Buffet und Champagner. Müller
blickt befremdet auf den Zettel. „Ich bin froh, wenn ich dann
zuhause bin.“ Zuhause, das ist ein 7000 Einwohner Ort im Badischen,
eine Autostunde entfernt von Frankfurt. Hier ist er aufgewachsen, hier
gibt es ein großes Hallo auf dem Waldfest, wenn er kommt, hier
hat niemand etwas mit der Finanzwelt zu tun. „Das ist meine Erdung.“ Es
gibt existenziellere Probleme als an der Börse. Ein Freund ist
kürzlich mit 50 an einem Herzinfarkt gestorben. „Das ist
immer so blöd so was.“ Sehr leise und sehr ratlos sagt Müller
das. Für einen Moment wirkt er wie ein trauriges Kind, das zum
ersten Mal mit dem Tod konfrontiert wurde. „Was zählt es
am Ende, wie viel man in seinem Leben erreicht hat?“, sagt er. „Dass
man den ehrlichen Weg geht, dass man gut mit der Familie und den
Freunden umgegangen ist, ist doch wichtiger als jeder Erfolg.“
Müllers Handy klingelt ihn aus der Nachdenklichkeit, ein Fernsehteam
von RTL kündigt sich für den Nachmittag an, er hat gerade
aufgelegt, da läutet es schon wieder. Nach dem Gespräch blickt
er nach draußen durchs Fenster, wo der Wind die Wolken zerfetzt
und das wirkt ein bisschen verträumt und man hat das Gefühl,
dass Müller das genau weiß. „Nur mit Zahlen zu hantieren,
den ganzen Tag keinen Himmel und keinen Baum zu sehen, das hat doch
mit dem richtigen Leben nichts zu tun“, sagt er. Seine Tage beginnen
morgens um 5:30, wenn er den Computer einschaltet, um zu sehen, wie
die Aktienmärkte in Asien eröffnet haben und er endet, wenn
er abends gegen 21 Uhr nach Hause kommt. Sein sechsjähriger Sohn
schläft dann schon. Er wolle es bald ruhiger angehen lassen. „Das
Leben ist so schnell geworden, wir arbeiten und konsumieren immer mehr,
was hat das für einen Sinn?“
Kann man im Herzen des Kapitalismus arbeiten und für Konsumverzicht
sein? Müller versucht den Spagat. Von außen wirkt es, als
ob er den Sinn, den er in seinem Börsenjob vermisst, findet, indem
er für die kleinen Leute eintritt. Der Anwalt der Kleinanleger,
das ist Müllers liebste Rolle, es ist eine Rolle, die kaum jemand
einnimmt auf den Kapitalmärkten – und es ist seine beste.
Hier kennt er sich aus, hier muss er keine abenteuerlichen Theorien
entwickeln. Im Sommer 2007, als die Experten noch zum Kauf von Aktien
und Derivaten rieten und der Deutsche Aktienindex sein Allzeithoch
von 8157 Punkte erreichte, sagte Müller in vielen Interviews: „Verkaufen,
da kommt etwas auf uns zu.“ Verantwortungslosigkeit hat man ihm
vorgeworfen, weil er Panik an den Märkten schüre, es sei
besser die Krise auszusitzen als zu verkaufen. Heute steht der Dax
um die 4100 Punkte, wer seit 2007 aussitzt, hat eine Menge Geld verloren.
Nach dem Essen wechselt Müller wieder die Welten. An der Börse hält er seine Chipkarte vor einen Sensor, daraufhin öffnet sich eine Plexiglas-Tür zu einem Zylinder, in dem ein Mensch stehen kann. Müller tritt ein, die Tür schließt – und gegenüber öffnet sich eine zweite Tür zum Börsensaal. Eine Vereinzelungsanlage zum Schutz vor Demonstranten. Im Oktober entrollten Attac-Aktivisten, die sich als Besuchergruppe eingeschlichen hatten, ein Banner in der Börse, auf dem stand: „Mensch und Umwelt vor Shareholder Value“. Dirk Müller stand auf dem Parkett und konnte gar nichts haben gegen diese Forderung, die sich gar nicht von seiner Meinung unterscheidet. „Die Leute haben auch gute Ideen, man muss ihnen zuhören“, sagt er. Dann geht er über das Parkett zu seinem Arbeitsplatz. Auf ihn warten drei Interviews und fallende Aktienkurse.