Der Krisengewinnler
Frankfurter Rundschau 11.02.09
Dirk Müller ist Deutschlands bekanntester Börsenmakler. Er lebt vom Finanzsystem, aber er gefällt sich auch als Kritiker der Kapitalmärkte. Der große Crash machte seine General- abrechnung nun prompt zum Beststeller.

Teil 1 Teil 2
Es ist 10.30 Uhr, als Dirk Müller auf das Börsenparkett tritt, um zu sagen, was hier sonst keiner sagt, mitten im Herzen des Kapitalismus. Müller steht in Anzug und Krawatte an seinem Arbeitsplatz, eine Kamera der ARD ist auf ihn gerichtet. "Vom Sinn der Börse ist nicht viel übrig", beginnt Müller seine radikale Abrechnung mit dem Finanzsystem. Das meiste Geld fließe in Derivate, weil Banken und Anleger sich dort schnellere Gewinne erhofften. "Derivate sind nichts als Wetten. Kein Arbeitnehmer, kein Unternehmen hat was davon - außer den Banken." Man wolle eine höhere Rendite als die Realität hergebe. Im Hintergrund rattern leise die Anzeigentafeln, wieder mal das Geräusch fallender Aktienkurse, das Licht ist freundlich im fensterlosen Saal, es soll die Sonne imitieren und das erscheint auch nötig an diesem düsteren Tag.

Müller ist wohl der einzige, der als Protagonist des Kapitalmarktes solch fundamentale Kritik übt und er ist nicht irgendwer. Vielen gilt der 40-Jährige als Gesicht der Börse. Jahrelang saß er unter der Anzeigentafel, auf der die Tageskurve des Deutschen Aktienindex abgebildet ist. Für die Fotografen machte er immer das passende Gesicht zum Kursverlauf, Bilder von ihm, mal zerknirscht, mal fröhlich, erschienen weltweit in Zeitungen, er wurde vom einfachen Kursmakler zu „Dirk of the Dax“. Jetzt hat er ein Buch geschrieben, „C(r)ashkurs“, Generalabrechnung mit dem Finanzsystem einerseits, Anlageratgeber andererseits. Es wurde von der Krise kurz nach Erscheinen im Januar in die Bestsellerlisten katapultiert. Wenn es nach der Wirtschaftslage geht, wird es dort wohl noch eine Weile bleiben – wer weiß dieser Tage schon mit Bestimmtheit, dass Altersvorsorge und Ersparnisse sicher sind?
Die größte Buchhandlung Frankfurts, hundert Meter entfernt von der Börse. Dirk Müller stellt sein Buch vor. Vor den Regalen mit der Informatik-Literatur: voll besetzte Stuhlreihen, links und rechts davon stehen die Zuschauer. Müller nimmt das Mikrofon in die Hand. „Dass Sie alle wegen mir gekommen sind, ehrt mich sehr.“ Er lächelt, seine mit Gel hochgestellten grauen Haare und die goldene Krawatte glänzen im Neonlicht. Müller gibt sich bescheiden, ist eloquent und er weiß, was das Publikum hören will: einfache Erklärungen für die Finanzkrise. „Uns werden viele Geschichten aufgetischt, die nicht stimmen“, sagt Müller. „Ich will Ihnen zeigen, was wirklich dahinter steckt – aber glauben Sie auch mir nicht alles, vertrauen Sie auf Ihren gesunden Menschenverstand.“

Applaus für Müller, hier steht einer, der die Wirtschaftskrise erklärt, ohne sich über seine Zuhörer zu stellen, das kommt gut an beim bunt gemischten Publikum. Junge Männer mit Krawatten sitzen da, ältere Damen mit Seidenschals, graumelierte Herren in sportlichen Windjacken. Müller rechnet vor, dass die Arbeitslosenzahlen geschönt werden, indem Menschen, die sich, finanziert von der Agentur für Arbeit, weiter bilden oder die Ein-Euro-Jobs machen, nicht mitgezählt werden. Statt den offiziellen 3,6 Millionen kommt er auf 6,2 Millionen Arbeitslose. „Wenn die wüssten wie viele sie sind, würden sie die Schuld nicht mehr bei sich suchen, sondern sich wehren.“ Zuhörer schütteln betroffen ihre Köpfe. Dann sagt Müller: „Wie die Bundesregierung die Arbeitslosigkeit halbiert, das ist das größte Wunder seit Moses das Rote Meer geteilt hat.“ Ein paar Zuhörer lachen. Bittere Pillen und flotte Sprüche, das ist das Müller-Konzept. „Soll ja auch Spaß machen, das Ganze“, sagt er.
Seine Thesen allerdings sind alles andere als spaßig. „Es wird noch weiter abwärts gehen mit der Wirtschaft, die Rezession ist noch gar nicht in Deutschland angekommen.“ Eine Frau Mitte 50, elegante Kleidung, schließt die Augen, ihr Kopf sackt nach unten. Ein Mann fragt: „Mir hat jemand gesteckt, ich solle Ende des Jahres kein Bargeld mehr haben – was sagen Sie dazu?“ Müller schüttelt den Kopf. „Wir sind im Moment in einer Phase der Deflation“, sagt er. „Halten Sie ihr Geld fest – und investieren Sie in Aktien, wenn die Inflation kommt.“ In diesem Moment ist Dirk Müller der Ratgeber, der verunsicherten Verbrauchern Anlagetipps gibt. Aber kurze Zeit später wandelt er sich zum Propheten der Apokalypse. „Unser Wirtschaftssystem wird kollabieren, es ist nur die Frage, wann: jetzt oder in wenigen Jahren.“ Das passiere zwangsläufig bei allen Finanzsystemen von Zeit zu Zeit, in denen es Zinsen fürs Geld gebe.

Wirtschaftswissenschaftler, die man mit Müllers Thesen konfrontiert, reagieren irritiert. Wie die Arbeitslosenzahlen sich errechneten, dass sei doch transparent, sagt Martin Weber, Professor für Finanzwirtschaft an der Uni Mannheim. „Und dass der Zinseszins Schuld sein soll an der Krise, ist absurd - ohne Zinsen würde niemand Geld hergeben und die Wirtschaft würde still stehen.“ Müller vergesse bei seiner Argumentation außerdem die Inflation, die den größten Teil der Zinsen aufzehre. „Ich weiß nicht, wie man so etwas behaupten kann, dafür gibt es doch gar keine Belege“, sagt Weber.

Doch für seine Zuhörer ist Müller der einzige, der sich traut, die Wahrheit auszusprechen. Signierstunde nach der Lesung: von links und rechts stehen die Menschen Schlange. Ein junger Mann in Anzug und Krawatte drückt Müller fest die Hand und sagt bedeutungsschwer: „Bitte bleiben Sie, wie Sie sind.“ Andere brauchen Lebenshilfe. „Ich bin sehr zufrieden mit meinem Job als Ingenieur“, sagt ein Mann. „Jetzt habe ich ein Angebot aus der Schweiz – bin ich dort sicherer als in Deutschland?“ Müller rät, in Deutschland zu bleiben, die schweizer Banken seien noch stärker von der Krise betroffen als die deutschen. Ein anderer sagt, Müller solle aufpassen, ein Freund von ihm sei wegen ähnlicher Kritik für fünf Jahre im Gefängnis gelandet. „Wegen was wurde er verurteilt?“, fragt Müller. „Das kann ich in der Öffentlichkeit nicht sagen“, sagt der Mann. Müller nickt. „Ich weiß, dass ich mich mit der Veröffentlichung des Buchs in Gefahr begebe.“ Später wird er sagen, dass es in seinem Leben seltsame Vorfälle gegeben habe, über die er nicht sprechen möchte. „Sonst würde doch jeder denken, dass ich damit Promotion für mein Buch machen möchte.“ Die Polizei sei eingeschaltet.

Wenige Tage später. Dirk Müller sitzt an seinem Arbeitsplatz an der Börse. 16 Makler vor jeweils vier Bildschirmen, bei einem läuft auf einem Monitor die 80er-Jahre-Fernsehserie „Hart aber herzlich“. Jeder ist für einige Aktien zuständig, per Computer bekommt er Kauf- und Verkaufswünsche – und legt auf der Basis von Angebot und Nachfrage den Kurs fest. „Das Urgeschäft der Börse“, nennt Müller das. Die Makler legen Wert darauf, keine Banker zu sein. „Mit denen haben wir so viel zu tun wie KFZ-Mechaniker mit Schreinern“, sagt ein Kollege, der neben Müller sitzt. Plötzlich ein Schrei. „Achtung - neue Zahlen!“ Die anderen Makler lachen. Geschäftsklimaindex, Arbeitslosenzahlen, die Verbraucherdaten, es gibt täglich eine Flut von Wirtschaftsdaten, aber sie haben so wenig Auswirkung auf die Aktienkurse, dass sich die Makler darüber lustig machen, wenn neue Zahlen veröffentlicht werden.

Ein Journalist vom Hessischen Rundfunk spricht Müller an, ob er gleich Zeit habe für einen O-Ton? Wenige Minuten später auf der Empore über dem Börsensaal. Hier sitzen die Radio- und Fernsehsender, von hier aus werden die Statements über die Lage der Finanzmärkte in die Republik gesendet. „Ey Schätzjen“, begrüßt ihn eine Moderatorin im Hosenanzug. „Oho - schick!“, säuselt Müller. „Hast du Zeit für einen O-Ton?“, fragt die Moderatorin. Müller streicht seine Krawatte auf seinem Bauch glatt und lächelt. Alles dreht sich hier um ihn. „Ja, klar, was machen wir?“ Die meisten Menschen hätten wohl zuerst gefragt, um welches Thema es gehen soll, bevor sie sich zu einem Interview bereit erklärt hätten, bei Müller ist es umgekehrt. Er setzt sich vor das Mikrofon. Bundesbankpräsident Axel Weber habe gesagt, das Schlimmste sei vorbei, die Krise überwunden. Was Müller davon halte? „Diese Schönrederei höre ich schon seit Monaten – und inzwischen hat sich der Dax fast halbiert, das ist doch Kappes.“ Noch während er spricht, kniet sich der nächste Journalist vom nächsten Sender mit einem Mikrofon vor ihn. Er muss nicht um eine Antwort betteln. Müllers Statement zur Scheffler-Conti-Übernahme? „Das ist eine absolute Harakiri-Aktion und am Ende muss der Steuerzahler den Hintern hinhalten.“ Der Radiojournalist kniet immer noch vor ihm, er grinst über das ganze Gesicht, Müller, die O-Ton-Maschine, hat erstklassige Ware geliefert, für drei Sender in zehn Minuten. Müller wirkt aufgeputscht. „Na, da hab ich euch wieder schön die Blutgrätsche gemacht“, sagt er.

Dirk Müller ist wieder auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz. Ein Kollege spricht ihn an. „Sag mal, hast du gestern auf HR 3 erzählt, dass die Welt untergeht?“ „Ja, ich hab gesagt, die Erde wird nächste Woche aufhören sich zu drehen“, antwortet Müller. „Musst ja auch dein Buch verkaufen“, sagt der Kollege. „Darum geht es nicht.“ Müller wird ernst, auf einen Marketing-Strategen für sein Buch will er nicht reduziert werden. „Ich hab einfach gesagt, wie es ist: Es geht abwärts und man sollte jetzt besser keine Aktien haben“, sagt er. „Ich habe aber auch erklärt, dass die Krise eine Chance ist für Menschen, die zum richtigen Zeitpunkt investieren.“ „Hab ich meiner Frau doch gleich gesagt: so schlimm wird es nicht sein, dass der jetzt bei den Zeugen Jehovas ist.“ Er lacht und verabschiedet sich.
Fragt man die Kollegen auf dem Parkett, was sie von Müllers Buch halten, dann trifft man solche, die genervt erscheinen vom ständigen medialen Interesse an „Mister Dax“ und sich nicht äußern wollen. Man trifft auf Makler, die seinen Thesen zu wirtschaftlichen Zusammenhängen folgen, wenn sie auch sehr simplifiziert seien – und die sagen: „Aber wo es um Politik geht, da hätte er sich einige Spekulationen doch besser gespart.“ Und man trifft auf ziemlich viele Menschen, die sagen, dass sie gut mit Müller können. Die halbe Börse scheint mit ihm verkumpelt zu sein, mindestens.

Müller ist ein Mann mit festen Gewohnheiten, jeden Freitag isst er auf dem Wochenmarkt vor der Börse, sonst in einem Lokal daneben. Heute bestellt er das Business-Lunch für 9,80 Euro. Auf dem Tisch liegt ein Flyer mit der Werbung für eine neue After Work-Party. Soul und House-Musik gibt es, ein Flying-Buffet und Champagner. Müller blickt befremdet auf den Zettel. „Ich bin froh, wenn ich dann zuhause bin.“ Zuhause, das ist ein 7000 Einwohner Ort im Badischen, eine Autostunde entfernt von Frankfurt. Hier ist er aufgewachsen, hier gibt es ein großes Hallo auf dem Waldfest, wenn er kommt, hier hat niemand etwas mit der Finanzwelt zu tun. „Das ist meine Erdung.“ Es gibt existenziellere Probleme als an der Börse. Ein Freund ist kürzlich mit 50 an einem Herzinfarkt gestorben. „Das ist immer so blöd so was.“ Sehr leise und sehr ratlos sagt Müller das. Für einen Moment wirkt er wie ein trauriges Kind, das zum ersten Mal mit dem Tod konfrontiert wurde. „Was zählt es am Ende, wie viel man in seinem Leben erreicht hat?“, sagt er. „Dass man den ehrlichen Weg geht, dass man gut mit der Familie und den Freunden umgegangen ist, ist doch wichtiger als jeder Erfolg.“
Müllers Handy klingelt ihn aus der Nachdenklichkeit, ein Fernsehteam von RTL kündigt sich für den Nachmittag an, er hat gerade aufgelegt, da läutet es schon wieder. Nach dem Gespräch blickt er nach draußen durchs Fenster, wo der Wind die Wolken zerfetzt und das wirkt ein bisschen verträumt und man hat das Gefühl, dass Müller das genau weiß. „Nur mit Zahlen zu hantieren, den ganzen Tag keinen Himmel und keinen Baum zu sehen, das hat doch mit dem richtigen Leben nichts zu tun“, sagt er. Seine Tage beginnen morgens um 5:30, wenn er den Computer einschaltet, um zu sehen, wie die Aktienmärkte in Asien eröffnet haben und er endet, wenn er abends gegen 21 Uhr nach Hause kommt. Sein sechsjähriger Sohn schläft dann schon. Er wolle es bald ruhiger angehen lassen. „Das Leben ist so schnell geworden, wir arbeiten und konsumieren immer mehr, was hat das für einen Sinn?“
Kann man im Herzen des Kapitalismus arbeiten und für Konsumverzicht sein? Müller versucht den Spagat. Von außen wirkt es, als ob er den Sinn, den er in seinem Börsenjob vermisst, findet, indem er für die kleinen Leute eintritt. Der Anwalt der Kleinanleger, das ist Müllers liebste Rolle, es ist eine Rolle, die kaum jemand einnimmt auf den Kapitalmärkten – und es ist seine beste. Hier kennt er sich aus, hier muss er keine abenteuerlichen Theorien entwickeln. Im Sommer 2007, als die Experten noch zum Kauf von Aktien und Derivaten rieten und der Deutsche Aktienindex sein Allzeithoch von 8157 Punkte erreichte, sagte Müller in vielen Interviews: „Verkaufen, da kommt etwas auf uns zu.“ Verantwortungslosigkeit hat man ihm vorgeworfen, weil er Panik an den Märkten schüre, es sei besser die Krise auszusitzen als zu verkaufen. Heute steht der Dax um die 4100 Punkte, wer seit 2007 aussitzt, hat eine Menge Geld verloren.

Nach dem Essen wechselt Müller wieder die Welten. An der Börse hält er seine Chipkarte vor einen Sensor, daraufhin öffnet sich eine Plexiglas-Tür zu einem Zylinder, in dem ein Mensch stehen kann. Müller tritt ein, die Tür schließt – und gegenüber öffnet sich eine zweite Tür zum Börsensaal. Eine Vereinzelungsanlage zum Schutz vor Demonstranten. Im Oktober entrollten Attac-Aktivisten, die sich als Besuchergruppe eingeschlichen hatten, ein Banner in der Börse, auf dem stand: „Mensch und Umwelt vor Shareholder Value“. Dirk Müller stand auf dem Parkett und konnte gar nichts haben gegen diese Forderung, die sich gar nicht von seiner Meinung unterscheidet. „Die Leute haben auch gute Ideen, man muss ihnen zuhören“, sagt er. Dann geht er über das Parkett zu seinem Arbeitsplatz. Auf ihn warten drei Interviews und fallende Aktienkurse.

ProfilReportagenInterviewsKontakt