Wie sieht es denn hier aus?
Frankfurter Rundschau MAGAZIN 05.03.05
Der Schweizer Ursus Wehrli bringt endlich Ordnung in die moderne Kunst. Besuch bei einem Experten.

Es braucht nicht viel, um endlich Ordnung in die Kunst zu bringen. Am wichtigsten sind Nagelschere und Klebestift. Sie liegen auf der Tischtennisplatte, an der Urs (Künstlername: Ursus) Wehrli aufräumt mit Keith Haring und Joan Miró, mit Paul Klee und Pablo Picasso. Der 35-jährige gelernte Typograf, Kurzhaarschnitt, bescheidenes Lächeln, steht in seinem Atelier in Zürich im vierten Stock eines grauen Zweckbaus. Wehrli zeigt, wie er Ordnung in der Kunst schafft. Durch seine Finger gleiten ein paar pinkfarbene Affen, säuberlich ausgeschnitten aus einem Druck von Keith Harings „Tree of Monkeys“. Vor ihm liegt eine Farbkopie des Gemäldes, auf dem der bepunktete Baumstamm mit Filzstift in Flicken unterteilt ist. In jedem Quadranten liegen 100 rote Punkte, darunter hat Wehrli die Rechnung aufgemacht: Harings Affenbaum hat 31 x 100 + 50 + 48 + 15 = 3213 rote Punkte. Dazu kommen 80 Blätter, 311 Bewegungslinien (lang: 89, mittellang: 98, kurz: 124) und 38 Affen. Wehrli hat das Bild aufgeräumt. Er hat alle Elemente ausgeschnitten, wirft jetzt die Affen auf einen Haufen, macht je nach Länge drei Stapel für Bewegungslinien und zwei für die Blätter - und klebt das Ganze auf einen Karton. So sieht ein ordentlicher Keith Haring aus.

Herr Wehrli, muss man Schweizer sein, um auf die Idee zu kommen, Kunst aufzuräumen?

Kann sein. Bestimmt ist das keine Idee, die in Afrika oder Südamerika geboren werden könnte. Auch nicht in Italien. Ein Deutscher hätte auch noch darauf kommen können, sonst wohl keiner. Wahrscheinlich ist es für viele Schweizer ganz normal, Kunst aufzuräumen. Manche denken bestimmt: Ja, Kunst aufräumen, ist ja logisch, muss ja mal gemacht werden.

Und das dachten Sie dann eines Tages?

Ein wesentlicher Anstoß für mich war Jean Tinguely, ein Schweizer Künstler, der sehr unordentliche, chaotische Bilder gemacht hat. Er mischte viele Farben und Elemente, kleckste herum und klebte Objekte auf die Leinwand. Ein Riesen-Chaos hat der immer gemacht. Ich habe mir Tinguely vorgestellt, wie er in seinem Zimmer sitzt, in dem alles durcheinander geht und seine Mutter kommt herein und sagt: „Wie sieht es hier denn aus?“

Ordnung zu schaffen, scheint Ihnen richtig Spaß zu machen.

Ich räume total gerne auf, ich finde es entspannend und kann dabei sehr viel verarbeiten. Ich habe das Gefühl, dass ich immer am Aufräumen bin. Während ich sortiere, ablege, einordne, entsteht in meinem Kopf noch mal sehr viel. Wenn mir das fehlt, geht es mir schlecht.

Herr Wehrli, wie ist Ihre Kleidung im Schrank geordnet?

Nach Art, nach Hosen, nach T-Shirts, nach hängenden oder liegenden Sachen, nach Winter und Sommer. In sich dann noch mal nach Farben. Das hält aber nie lange.

Bügeln Sie Ihre Unterhosen?

Auf gar keinen Fall! Ich habe Hemden für meine Bühnen-Auftritte, die lasse ich reinigen und dann werden sie auch gleich gebügelt. Aber sonst bügele ich überhaupt nichts.

Entsprechen Sie denn nun dem Klischee des pedantischen Schweizers oder nicht?

Ich habe das auf jeden Fall in mir, jeder Schweizer hat wahrscheinlich ein bisschen davon in sich. Aber ich lache gerne über diesen Teil von mir. Ich bin auch froh, wenn mich Leute da heraus holen. Und es gibt ja noch den anderen Pol. Schauen Sie sich um. Hier ist es ja nicht sehr ordent-lich. Aber es gibt ein System, ich weiß, wo ich was habe.

Auf dem Schreibtisch in Urs Wehrlis Atelier liegen Papierstapel in einem Regal, überall hängen Zettel, aber nur ein Stück Papier pro Wäsche-klammer oder Büro-Magnet. Vor der Tür liegt ein feuchtes Putztuch zum Füße-abtreten. Urs Wehrli ist eindeutig halb-ordentlich. Trotzdem gilt er in der Schweiz als großer Aufräumer. Bei der 1. Internationalen Putz-fachtagung im letzten Jahr in Basel hat er referiert. Der Floristenverband engagierte ihn, um für eine Fotoserie Blumengestecke in Ordnung zu bringen (unter anderem zerlegte Wehrli einen Adventskranz in Kerzen, Zweige und vergoldete Nüsse), die Boulevardzeitung „Sonntagsblick“ hat ihn beauftragt, eine Ausgabe aufzuräumen. „Dieses Chaos mit den riesigen Lettern reizt mich schon sehr. Ich denke, ich werde Häufchen und Türme aus Buchstaben machen, alphabetisch geordnet, das gäbe eine schöne Skyline.“ Wehrli prustet ein kurzes Lachen heraus, wie ein Junge, der sich über einen gelungenen Streich freut.
„ Ich bin sehr ordentlich aufgewachsen“, sagt er. Wehrli hat drei Geschwister, der Vater war Stadtoberförster, die Mutter Hausfrau. Sie wohnten in Aarau, einer 15 000 Einwohnerstadt zwischen Zürich und Basel. In der Schule lief es zunächst normal, aber dann mit 16 legte er sich häufiger mit den Lehrern an, fragte, warum er sich mit Algebra und Atommodellen beschäftigen solle. Er verließ die Schule, begann eine Lehre zum Typografen. „Schon nach kurzer Zeit war mir klar, dass ich kein Leben führen kann, wo ich Aufträge annehme von morgens acht Uhr bis abends um sechs - obwohl mir viele erzählt haben, das wäre nur am Anfang so schlimm, nach ein paar Jahren, fände man dieses Leben ganz toll.“ Vor einem langen Wochenende packt den 17-Jährigen das Fernweh, ohne seinen Angehörigen und Freunden etwas zu sagen, stellt er sich an die Straße und trampt los. Er kommt bis Südfrankreich, zieht bettelnd mit Pennern durch die Stadt, trinkt mit ihnen Rotwein und schläft mit ihnen im Gebüsch. „Das war für mich Freiheit, aber so zu leben und nichts zu tun, das war es dann doch nicht für mich“, sagt Wehrli.
Wenn er von diesem Ausbruch erzählt, könnte man denken, er sei Wochen und Monate unterwegs gewesen. In Wirklichkeit waren es bloß vier Tage. Am Montag erschien Urs pünktlich wieder bei der Arbeit. Aber jetzt wusste er, dass er nicht sein ganzes Leben in der Druckerei bleiben würde. Und dass er etwas können musste, um wirklich frei zu leben. Er begann zu „jonglieren wie ein Blöder“, meldete sich schließlich für eine Zirkusfreizeit in Wiesbaden an. Die war dilettantisch organisiert, aber dennoch ein Glücksfall für Wehrli.
Denn eines Tages rief das ZDF bei der Zirkusschule an und fragte nach Statisten. „Weil der Leiter ein Hochstapler war, sagte er natürlich zu“, erzählt Wehrli. Er und Nadja Sieger, ebenfalls aus der Schweiz, konnten aber noch keine Zirkusnummer. Deshalb wurden die beiden ein Clownsduo - und das sind sie noch heute, fast 18 Jahre, nachdem sie mit roten Nasen im „ZDF-Fernsehgarten“ durchs Bild huschten. Als „Ursus und Nadeschkin“ kennt sie in der Schweiz fast jeder, in Deutschland wurden sie durch zahlreiche Tourneen und Fernsehauftritte bekannt, bekamen 2002 den „Deutschen Kleinkunstpreis“.
Sie sind ein Komikerduo, das auf der Bühne nur streitet, das Beziehungsprobleme (obwohl sie privat nie ein Paar waren) wunderbar auf die Schippe nimmt. Hier die quirlige, aufgedrehte Nadeschkin mit den wild abstehenden Haaren und der gelben Latzhose, da Ursus, der Biedermann im grauen Anzug, die Kunstfigur, die sogar Kunst aufräumt. Wehrli braucht seine pedantische Seite, um sie auf der Bühne überzeichnen zu können. Obwohl auch in Wirklichkeit manches, was er macht, autistisch anmutet.
An der Wand in Wehrlis Atelier hängt ein Stadtplan von Zürich, auf den rote Punkte geklebt sind, als ob ein Fernsehkommissar Tatorte markiert hätte, 65 Stück. Es sind die Orte, an denen „Ursus und Nadeschkin“ auf der Bühne standen. In einer Ecke des Ateliers hängt eine chronologische Liste mit allen bisherigen Auftritten (über 2000), die Ordner mit dem säuberlich archivierten Pressematerial füllen ein ganzes Regal. In einem Balkendiagramm, handgemalt mit Filzstift auf kariertem Papier - jeweils eine andersfarbige Säule steht für ein anderes Programm - hält Wehrli die Auftrittshäufigkeit des Duos seit 1990 fest. „Ich mag Dinge, die von Hand gemacht sind, Strichtabellen, Listen und so etwas.“
Die Sonne scheint durch Fenster mit Aluminium-Rahmen auf Holzschilder und Papptafeln, die an den Wänden lehnen: Drucke von unordentlichen Gemälden - und Wehrlis aufgeräumte Pendants. In van Goghs Schlafzimmer hat er zum Durchfegen Tisch und Stühle aufs Bett gestellt, Egon Schieles „Liegender weiblicher Akt“ hat er zerstückelt in Körperteile, Tuch und ein paar Stiefel, Georges Seurats Gemälde „Les Poseuses“ wird in seiner Version zu einer Tüte Konfetti und ein Action Painting von Jackson Pollock gießt er zurück in fünf Farbdosen.

Herr Wehrli, lässt man Sie noch ins Museum? Oder haben Sie Hausverbot?

So lange ich die Schere nicht dabei habe, komme ich noch rein.

Aber die Kunstszene schmäht Sie für Ihre Aufräumarbeiten?

Ehrlich gesagt: überhaupt nicht. Ich habe mich selbst gewundert. Ich hatte Diskussionen erwartet, ob man das darf oder nicht. Aber Kritiker und Kuratoren finden das Projekt klasse. Ich malträtiere die Bilder ja auch nicht. Ich mache das sehr sorgfältig.

Wollen Sie sich über Kunst lustig machen?

Grundsätzlich bin ich niemand, der sagt: Ich will damit dies und das erreichen. Aber was mir daran gefällt, ist, dass die Kunst nicht so tierisch ernst genommen wird. Die ganze Szene wirkt immer wahnsinnig seriös, respektvoll, heilig. Es geht um sehr viel Geld, da stimmen die Verhältnisse zum Teil nicht mehr. Ich finde Kunst schön, wenn sie zugänglich ist. Und wenn man über Kunst lachen kann, kommen die Bilder von ihrem hohen Sockel herunter.

Ist Aufräumen eine Kunst?

Es ist keine wahnsinnige Kunst, das so zu machen. Aber ich finde, die Idee und die Ausdauer, eine Idee zu verfolgen, ist ja oft die Kunst. Das typische Bild von einem, der im Museum vor einem schwarzen Bild steht und sagt: „Das kann ich auch.“ Da kann man ja nur sagen: „Ja, dann mach doch.“ So jemand würde das wahrscheinlich nicht tun. Man braucht den Mut zu sagen: „Ich mache das jetzt, mir ist das jetzt wichtig, ich will einen großen Teil meines Lebens damit verbringen, schwarze Bilder zu malen.“ Die Idee des Kunstaufräumens ist eine ganz einfach Idee, aber die Kunst ist, es dann wirklich zu machen.

Eine Putzfrau hat einmal eine Fettecke aus einer Beuysschen Badewanne geputzt - und bekam Beifall von Verächtern moderner Kunst. Geht es Ihnen genauso?

Ich denke, es sind immer ein paar dabei, die denken: „Ja endlich macht da mal einer Ordnung.“ Aber es ist nicht so, dass ich Fanpost aus der rechten Ecke bekomme.

Aber Sie haben so etwas schon mitbekommen?

Ab und zu höre ich mal ältere Leute, die einen Spruch liegen lassen: „Gut, dass da mal einer aufräumt.“ Aber das sind wohl die Menschen, die meistens vor dem Fernseher sitzen und von denen bekomme ich ja kaum etwas mit.

Es ist Freitagabend, 22 Uhr, die Musik verstummt in der ehemaligen Transformatorenhalle, die jetzt Haus Konstruktiv heißt und tagsüber ein Museum ist. Urs Wehrlis Schritte hallen auf dem Betonboden, er geht zwischen den Tischen hindurch, an denen knapp 30 Leute sitzen. „Rent a museum“: Neben einem 154 Quadratmeter großen Wandbild des US-Konzeptkünstlers Sol LeWitt findet die Betriebsfeier von „Cat Aviation“ statt, einem Vermieter von Privatjets. Zwischen Hauptgang und Dessert wird Urs Wehrli, grauer Anzug, graue Krawatte, Kunst aufräumen. Kurz vorher hat er gesagt: „Oft habe ich diese Art von Auftritt noch nicht gemacht, es ist immer spannend, weil ich nie weiß, wie das Publikum reagieren wird.“
Jetzt steht er vor Stewardessen und Piloten zwischen zwei Staffeleien und sagt: „Guten Abend, ich soll hier eine Lesung machen.“ Er blättert durch sein Buch „Kunst Aufräumen“. „Aber das ist eigentlich ein Bilderbuch, da wäre ich schnell fertig.“ Erste Lacher, er legt es zur Seite und hebt einen Karton auf die Staffelei, auf den die „Farbtafel“ von Paul Klee, ein Gemälde bestehend aus bunten Quadraten, geklebt ist. „Hier muss mal Ordnung gemacht werden, man sieht ganz deutlich, der Maler hat nicht richtig gewusst, wohin mit der Farbe, wahrscheinlich war er in Eile.“ Kichern im Publikum. Wehrli zeigt auf das einzige weiße Quadrat. „Hier hat er mal Pause gemacht.“ Er deutet erst auf ein dunkel-, dann auf eine hellblaues Quadrat. „Hier ist ihm wohl langsam die Farbe ausgegangen.“
Dann hebt er schwungvoll den aufgeräumten Klee auf die zweite Staffelei: Sieben Türme mit unterschiedlich farbigen Quadraten. Zwei junge Frauen lachen laut, der Mittvierziger ihnen gegenüber schaut ein wenig grimmig, weil Wehrli ihm die Schau gestohlen hat. Sonst Schmunzeln, einige unverständige Blicke, vor allem ein Pilot am Kopf einer Tafel, schwarze Haare, markantes Cowboy-Gesicht, verzieht lange Zeit keine Miene. Doch zum Schluss hat Wehrli mit seiner Gestik und seinen Gags („Dieses Bild heißt: Das mystische Gesicht - was daran mystisch ist, da müsst ich mal drüber nachdenken ...“) alle zumindest zum Lächeln gebracht.
Am nächsten Tag, ordentliche und unordentliche Bilder stehen wieder in Wehrlis Atelier. Auf einem Stapel neben dem Fenster liegen unfertige Aufräumprojekte. „Hier habe ich mal versucht, Europa aufzuräumen - aber dann war mir Russland zu groß.“ Auf einem blauen Stück Pappe kleben die Umrisse von Staaten, ausgeschnitten aus einer politischen Karte. In der Mitte liegt die Schweiz, als Insel im Meer, die nächsten Länder sind Kroatien und Norwegen. „Das habe ich so geordnet, wie es mir am besten gefallen würde.“
An den USA hat sich Wehrli auch schon versucht, hat Stars and Stripes aus Jasper Jones' Gemälde „Flag“ ausgeschnitten. „Aber dann habe ich gemerkt, dass die US-Flagge kaum noch ordentlicher hinzubekommen ist - und außerdem war mir das dann auch zu politisch.“ Ein Haufen Sterne, aufgeklebt auf ein blaues Stück Karton, ein paar lose rote und weiße Streifen, in diesem Stadium ist das Projekt geblieben. Erfolgreicher war er bei der Schweizer Flagge. Die wird, aufgeräumt von Ursus Wehrli, zur Österreichischen - oder in runder Form zur Einbahnstraße.

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