Schluss mit lustig
Frankfurter Rundschau MAGAZIN 07.01.06
Die Wohngemeinschaft war sein Leben, immer war was los, Moritz fand seine besten Freunde hier und seine große Liebe. Aber alles hat sich geändert, Zeit zu gehen für den WG-Ältesten. Ein Abschiedsrundgang.

Niemand in der Wohngemeinschaft (WG) hätte gedacht, dass Moritz ernst machen, dass er, der Hüter des WG-Erbes, so schnell aufgeben und den Jungen das Feld überlassen würde. Jahrelang war er es, der dafür gekämpft hatte, dass alles so blieb, wie es war, dass all die kleinen Dinge, die ihn erinnerten, an Menschen, an vergangene Lieben und wilde Feste, dort blieben, wo sie waren.
Acht Jahre, fast sein gesamtes Studentenleben, hat er in der Wohngemeinschaft verbracht, an einer großen Straße in einer kleinen deutschen Studentenstadt. Erst als Dauergast, der nur zum Schlafen in sein eigenes Zimmer ging, dann als Bewohner. Mit insgesamt 22 Menschen hat er hier zusammengelebt. Jetzt, mit 29 Jahren, hat er sich entschieden zu gehen. Der gedrungene Biologe, fingerlanges dunkelblondes Haar, Ziegenbart, steht im Zentrum der 7-Zimmerwohnung: der runden Diele, die gleichzeitig so etwas wie die Wohnküche ist. Es ist schummerig, nur wenig Tageslicht fällt in den fensterlosen Raum, durch eine der sechs Türen, die von hier aus in genauso viele Zimmer führen. Angeblich soll die Wohnung früher ein Bordell gewesen sein. In der Mitte der Diele steht ein runder Esstisch, an der einzigen größeren Wandfläche ein Küchenschrank, der von oben bis unten beklebt ist mit Postkarten und Fotos, einige sind mehr als zehn Jahre alt.
„ Hier die Bilder meiner Freunde: einfach überklebt mit einer Postkarte - aus Nürnberg!“ Die Teller im Schrank stehen in einem anderen Fach. „Da gewöhne ich mich nicht mehr dran.“ Und dann sind da noch die Spiegelscherben, die der ehemalige Mitbewohner Paul, der „Quotenossi“, einst mit rotem Isolierband umklebte und an jede freie Wand pappte, als extravaganten Schmuck. Neulich ist wieder eine von der Wand gefallen, das kommt öfter vor, weil der Klebestreifen nach Jahren an Haftung verloren hat. Eine Mitbewohnerin hat das Kunstwerk heimlich entsorgt. „Alle Neuen finden die Spiegel blöd. Die abzureißen - das haben sie sich noch nicht getraut, aber sie bemühen sich wirklich nicht, diese Sachen zu retten.“ An der Wand hängt ein Pappschild mit der Aufschrift „Haussegen“ - es hängt schief.
Es gibt genügend Zeichen, die zeigen, dass Moritz' Zeit abgelaufen ist. „Die warten doch nur darauf, dass ich ausziehe“, sagt er. Lilli, eingezogen vor einem halben Jahr, schlendert vorbei und grinst. „Dann wird hier mal aufgeräumt.“ Moritz lächelt bittersüß. „Ist ja auch richtig so, Studenten-WGs den Studenten.“ Mittlerweile promoviert er. „Fette Made“ wurde er in seinen ersten WG-Jahren genannt, weil er sich durchschnorrte - heute füttert er selbst Insektenlarven für seine Doktorarbeit. Wehmütig führt Moritz durch die WG, an jeder Ecke, an jedem Gegenstand hängen Erinnerungen.
Die Affäre
Moritz, Birkenstock-Schlappen und an den Knien aufgescheuerte Jeans, schlurft durch die runde Diele und zeigt auf einen Kühlschrank, der in den 70ern gebaut worden sein muss. Auf der Tür klebt ein vergilbter Aufkleber: „Frauen sind gleichberechtigt.“ Darüber auf dem Hörer der Gegensprechanlage ein anderer: „Umweltschädlich - nicht mehr kaufen!“ „Die müssen noch von Saskia stammen“, sagt Moritz. Sie hinterließ außerdem: Eine Pflanze im Esszimmer - die, wenn man Moritz glaubt, aufgeblüht ist, nachdem Saskia ausgezogen war - und zahlreiche Kaffeespritzer an der Decke. „Da hat sie aus Wut mal die Kaffeekanne vom Tisch gehauen.“ Saskia, Pädagogik-Studentin, legte Wert auf Emanzipation und ökologisch-bewusste Lebensweise. Morgens fuhr sie mit dem Fahrrad zum Bauern, um Milch zu kaufen. Auf einem Foto, das Moritz ausgegraben hat, ist eine Frau Mitte 20 mit langen braunen Haaren zu sehen. Sie sitzt auf einem Stuhl, die kräftigen Arme in die Hüfte gestemmt, blickt nachdenklich in die Ferne. „Sie war stutenbissig“, sagt Moritz. Das hing mit Armin zusammen.
An Armin, den großen, schlanken Biostudenten, der mal auf dem Sprung war, Leichtathlet zu werden, erinnert nichts mehr in der WG, aber dafür gibt es von ihm viele Geschichten in Moritz' Gedächtnis. Die meisten davon haben mit Frauen zu tun - und eine mit Saskia. „,Es gibt Frauen und es gibt Mitbewohnerinnen', hat Armin mal zu mir gesagt“, erzählt Moritz. „Kurze Zeit später hat er die Regel selbst gebrochen - und eine Affäre mit Saskia angefangen.“ Saskia, bereits im Hauptstudium, sei, so hat Armin es später erzählt, in sein Zimmer gekommen und habe sich ausgezogen, einfach so, während er für eine Klausur lernte. Er habe faktisch nicht anders gekonnt, als mit ihr zu schlafen. Zunächst unbemerkt von der restlichen WG hatten die beiden eine heftige Affäre.
„ Das waren noch wilde Zeiten!“ Moritz nickt energisch. „Saskia hatte einen Freund, der häufig am Wochenende zu Besuch kam. Dann war Armin abgemeldet und schlich wie ein Schatten durch die Wohnung.“ Armin habe darunter sehr gelitten. „Aber er hatte Schlag bei den Frauen - und irgendwann keine Lust mehr auf die Affäre mit Saskia.“ Die reagierte gereizt. Als dann noch Coco einzog, ein lebenslustiges, kokettes Mädchen, das sich - auf rein freundschaftlicher Ebene - sehr gut mit Armin verstand, wurde Saskia sehr eifersüchtig. „Da ist es hoch hergegangen, sie hat oft wütend die Türen zugeknallt“, erzählt Moritz. Der Unmut über Saskias Launenhaftigkeit in der WG wurde so groß, dass ein Mitbewohner heimlich in die Blumentöpfe ihrer Zimmerpflanzen pinkelte. Schließlich zog Saskia aus. Armin blieb sich treu, hatte später in anderen Städten Affären mit Mitbewohnerinnen, einmal sogar mit zweien auf einmal. Heute ist er fest liiert und hat ein Kind.
Die Wende
An der Pinnwand gegenüber vom Esstisch, zwischen Flyern und einem Gutschein für die Dönerbude, hängen zwei runde Pappscheiben mit den Namen der WG-Bewohner. Pfeile zeigen an, wer dran ist mit Putzen und Spülen. Es gab Zeiten, da scherte man sich darum wenig. Die Wende kam mit Marc. Moritz schrieb während seines Auslandssemesters in Schottland an seine WG: „Na, wie läuft es mit dem Neuen?“ Die Antwort war knapp: „Er putzt sehr viel.“
Moritz zieht das Haushaltsbuch aus einer Schublade. Mit Hilfe der Einträge hat er eine Tabelle erstellt, die exakt auflistet, wer, wann in welchem Zimmer gewohnt hat. Es ist wohl seine Art von Sentimentalität. Er blättert das Haushaltsbuch auf. „Hieran kann man gut erkennen, wie sich die Zeiten geändert haben.“ Er schlägt das Jahr 1997 auf, schief gezogene Linien, durchgestrichene Ziffern, zeitlich unregelmäßige Einträge. Dann blättert er vor zum Jahr 1999. Akkurate Schrift, gerade Linien, jede Woche ein Eintrag. Kurz vorher war Marc eingezogen. Als Moritz zurückkam, gab es einen funktionierenden Spül- und Putzplan - und ein pedantisch geführtes Haushaltsbuch. Ältere Mitbewohner kamen damit nicht klar. „Marc machte richtig Druck, wenn man seinen Putzdienst nicht sofort erledigte - das war neu.“ Coco hatte einen großen Freiheitsdrang und störte sich am Putzplan. Schließlich zog sie aus, irgendwann lebte sie in einem Wohnmobil. Die WG war ein Stück ordentlicher geworden. Obwohl vieles heute nicht sauber aussieht. „Früher war es definitiv schmutziger - der verbackene Dreck, der jetzt noch da ist, stammt aus der Zeit vor Marc.“
Der Punkrocker
Eine Tür führt von der Diele in die Küche. An der Wand, festgeklebt mit Tesa-Film, die Spezialitäten des Hauses: ein braunes Etwas, mit dem Etikett „Ich war eine Möhre“ und ein kohleschwarzer Brocken, darunter ein Zettel „Ich war Pizzakäse“. Die Küche ist auch Bad. Auf einem schmalen Brett stehen die Zahnputzbecher, auf dem Waschbecken darunter ein benutzter Nudeltopf. Eine Spüle gibt es nicht. Neben der Dusche hängt das Gewürzregal. „Wir legen Handtuch oder den Bademantel neben die Dusche und trocknen uns in der Kabine ab. Nackt in der Küche steht hier keiner rum - leider nicht.“ Gegenüber der Dusche: ein Meilenstein der WG-Geschichte von 2001, die Spülmaschine. Mitgebracht hat sie Uwe, berüchtigter „Wecker-Überhörer“ und Bassist der Punkrockband „Vom Millionär zum Tellerwäscher“. Nur ein halbes Jahr wohnte er im kleinsten Zimmer. Das Spülen machte ihm so zu schaffen, dass er noch kurz vor dem Auszug eine Spülmaschine besorgte. „Früher musste man manchmal zwei Stunden spülen“, erzählt Moritz von der Zeit davor, „es war klüger, seinen Dienst schnell zu erledigen, bevor zu viel zusammen gekommen war.“
Der Rausschmiss
Das erste Waschbecken hinter der Tür, hier hat Claudia sich buchstäblich aus der WG geschrubbt. „Dass sie offene Toastpackungen auch von der zweiten Seite aufmachte, war ja noch okay“, findet Moritz. Aber kurz nachdem sie eingezogen war, gab es einen rapiden Seifenschwund. „Über dem Waschbecken lag immer ein Seifenfilm - deshalb haben wir bald auf Flüssigseife umgestellt.“ Nach kurzer Zeit lag der Verbrauch bei rund einem halben Liter Flüssigseife pro Tag. „Wir hörten immer das Rauschen des Wassers, Claudia wusch sich ständig die Hände, bis sie feuerrot waren.“ Die Stadtwerke erfragten den Stand des Wasserzählers - und hielten den Wert für ein Versehen. Er lag um 50 Prozent über dem des Vorjahres. Nach und nach wurde klar: Claudia hatte Waschzwang. Die WG riet zur Therapie, die hatte Claudia schon gemacht, sie begann trotzdem eine neue. Für kurze Zeit besserten sich die Symptome, aber bald traten sie wieder auf. Heimlich wurde die Warmwasserzufuhr zu dem Waschbecken gedrosselt, das Claudia ausschließlich benutzte. Die WG holte sich Rat bei der psychologischen Beratungsstelle der Uni. Konnte man Claudia rauswerfen? Der Psychologe meinte: ja, eine WG sei nicht das Richtige für einen Menschen mit Waschzwang. Claudia sei sehr gefasst gewesen, als die WG ihr den Auszug nahelegte, meint Moritz.
Die Zeitbombe
Von der Küche führt eine Tür in anderthalb Quadratmeter Toilette, mintgrüne Fliesen, zugepflastert mit Cartoons, vergilbt und eingerissen, einer von Bernd Pfarr aus dem längst eingestellten „Zeit“Magazin. Das ist der Ort, an dem sich WG-Mitbewohner verewigen. „Am fleißigsten war Fabrizio“, sagt Moritz. Der Halbitaliener, heute noch sein bester Freund, hinterließ: ein Flugblatt, das erklärt, warum Atomkraft schlecht ist, eine Kurzgeschichte, die besagt, dass es nichts bringt, sich im Leben anzustrengen, und einen Cartoon, in dem eine Meute dazu animiert wird, „Supermarkt“ zu skandieren und stattdessen „Spermakurt“ ruft.
Moritz tritt zurück in die Küche, zeigt zum altertümlichen wirkenden Gasherd. „Eine Verewigung könnte sich für Fabrizio noch rächen.“ Einmal, als der alleine in der Wohnung war, erzählt Moritz, kam der Schornsteinfeger, um den Boiler zu inspizieren. Er sah den Gasherd - und wollte ihn sofort stilllegen. Der hat nämlich kein Sicherheitsventil, das verhindert, dass Gas ausströmt, wenn die Flamme erlischt. Eigentlich darf er deshalb nur im Freien verwendet werden, ein Herd für Festzelte. Fabrizio, der mittlerweile seit sieben Jahren nicht mehr in der WG wohnt, verhinderte die Stilllegung - mit seiner Unterschrift: indem er sich für etwaige Schäden verantwortlich erklärte. „Aber bis heute gab es nie Probleme mit dem Herd“, sagt Moritz.
Der Partnerwechsel
Moritzs Zimmer ist das größte in der WG, 26 Quadratmeter, Umzugskisten stehen in der Ecke, der Schreibtisch ist schon weg. Auf dem Boden ein beigefarbener Teppich, übersät mit Brandlöchern und Flecken. „Ich habe zwölf Partys mitgemacht hier, und bei jeder hat der Teppich mindestens einen Brand- und zwei Rotweinflecken abbekommen.“ An der Wand hängt die Galerie seiner Ex-Freundinnen. Auf einem Foto: Yvonne. Er hatte sie bei den Studentenprotesten gegen Studiengebühren 1997 kennen gelernt, beim Plakatemalen für die Demos in Wiesbaden und Bonn.
Yvonne war, nachdem sie mit Moritz zusammen gekommen war, eigentlich immer in der WG. Sie saß auf dem Sofa beim Fernsehgucken, sie aß mit den Bewohnern am Küchentisch, sie war dabei, wenn sich Interessenten für eines der WG-Zimmer vorstellten. Nach einer solchen Vorstellungsrunde sagte sie einmal: „Paul nehmen wir, der sieht gut aus.“ So kam es, der Jura-Student aus Rostock zog in die WG.
Nach ein paar Monaten machte Pauls Freundin mit ihm Schluss, bei Moritz und Yvonne kriselte es. Kurz darauf war auch ihre Beziehung beendet, und etwas später, Moritz saß gerade beim Frühstück, kam Yvonne aus Pauls Zimmer, in Unterhose und T-Shirt. „Da habe ich ganz schön geschluckt an meinem Toast“, sagt Moritz. „Aber zum Glück hatte ich da schon Sarah.“
Er deutet auf ein anderes Foto an seiner Wand, das ein hübsches Mädchen mit langen braunen Haaren zeigt. Aber Sarah, viertes Semester Biologie, hatte noch einen Freund, mit dem sie eines Tages nach Thailand fuhr. Per Email schrieb sie Moritz, ihr Freund sei nicht begeistert gewesen, als sie von der Affäre mit Moritz erzählt habe, er wolle Freunde in der WG vorbei schicken, die Moritz verprügeln sollten. Der erschrak - und wunderte sich über den gleichgültigen Tonfall, mit dem Sarah das schrieb. Nicht gerade die Empathie, die er sich gewünscht hätte. Die Schläger kamen nicht, dafür zog Sybille ein, 20 Jahre alt, Kurzhaarfrisur, Fahrerin einer Ente - und Moritz verliebte sich in sie. Als Sarah aus Thailand zurückkam, waren der WG-Älteste und das Küken ein Paar.
Die WG-interne Beziehung funktionierte - fast drei Jahre lang, von denen Moritz sagt, sie seien die besten seines Lebens gewesen. Nachdem die beiden sich getrennt hatten, zog Sybille aus, Moritz blieb, aber irgendwie war dieser Abschied auch der Anfang seines eigenen. „Auf der nächsten WG-Party habe ich kaum noch Leute gekannt - und da wusste ich: Es ist Zeit zu gehen.“
Das Ende
Einen Monat nach seinem Auszug, Telefongespräch mit Moritz. „Bevor ich gegangen bin, habe ich den Greis-Pokal gestiftet - den soll jetzt immer der bekommen, der am längsten in der WG wohnt.“ Moritz wirkt ein bisschen geknickt, den Teppich aus seinem Zimmer habe sein Nachfolger herausgerissen, erzählt er, neue Stühle ständen um den Esstisch, neue Regale hingen in der Küche, die Spiegelkunstwerke sind verschwunden, das große Pinguinposter im Wohnzimmer soll weg, in der Toilette sind alle Cartoons und Zettel von den Wänden verschwunden. Und das soll erst der Anfang sein. „Neulich war ich noch mal da, ich habe zwei Bier getrunken - und war melancholisch. Diese WG war so viele Jahre mein Lebensmittelpunkt, ich vermisse sie, sehr sogar.“ Einen Moment Stille in der Leitung. „Aber es war trotzdem richtig auszuziehen.“

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