Einmal Hölle und zurück
Frankfurter Rundschau MAGAZIN 04.11.04
Gladies mochte Kleider und ging gern zur Schule. Dann wurde sie von Rebellen entführt. Sie wurde vergewaltigt und gezwungen einen Jungen zu töten, mit 13 Jahren. Die Geschichte einer Kindheit im Norden von Uganda.

Die Rebellen kommen kurz nach dem Mittagessen. Sie kommen, um Gladies Akello zu holen. Es ist der 5. März 2004. Der Platzregen hat aufgehört, jetzt brennt die Sonne wieder senkrecht auf den kleinen Acker nahe Angaba, ein Dorf aus zehn strohgedeckten Lehmhütten im Norden Ugandas. Wasserdampf liegt in der Luft. Gladies, 13 Jahre, und ihre Eltern hacken im feuchten, roten Boden. Benson, ihr 11-jähriger Bruder, steckt Bohnen in die Erde. „Wie lange dauert es, bis eine Bohne groß ist?“, fragt er. „In drei Monaten können wir ernten - und dann mache ich uns einen großen Topf.“ Plötzlich ein metallisches Klicken. Als Gladies den Kopf hebt, blickt sie in einen Gewehrlauf, drei Meter entfernt. Sie schaut sich um. Auch hinter ihr, links und rechts, stehen Männer mit zerschundener Kleidung, Gewehre im Anschlag, vier kann sie zählen. Gladies' Vater lässt seine Hacke sinken, ihrer Mutter rinnen Tränen über das Gesicht, sie drückt ihre beiden Kinder an sich. Wenn die Bohnen geerntet werden, das weiß sie in diesem Moment, werden Gladies und Benson nicht mehr da sein.
„ Lasst die Hacken fallen“, zischt der Rebellenführer, „Ihr kommt mit!“ Mutter, Vater und die beiden Kinder müssen schleppen: die Bohnen, die sie pflanzen wollten, und den Maniok vom Feld nebenan. Nach einer Stunde Fußmarsch, die Gruppe ist mitten im Dschungel, hält der Kommandant sie an. „Wir brauchen euch nicht mehr“, sagt er, und richtet das Gewehr auf die Eltern. „Verschwindet.“ Gladies und Benson klammern sich an ihre Mutter, zwei Rebellen packen die Kinder, entreißen sie der Mutter. Die sinkt auf die Knie, weint, schreit zum Himmel: „Lasst mir meine Kinder!“ Dann zerren die Rebellen der Lord Resistance Army (LRA), der selbst ernannten „Widerstandsarmee des Herrn“, Benson und Gladies in den Wald.
Seit 18 Jahren herrscht Bürgerkrieg in Norduganda. 1,6 Millionen Menschen wurden aus ihren Wohnorten vertrieben, leben in Lagern. Dort sind sie auf Hilfslieferungen des Welternährungsprogramms angewiesen, die meisten Felder in der einstigen Kornkammer Ugandas liegen brach. Die Menschen, die wie Familie Akello in ihren Dörfern geblieben sind, leben in ständiger Gefahr überfallen zu werden.
Es begann als Aufstand der Acholi, einer Volksgruppe aus dem Norden, gegen den Präsidenten Yosewir Museveni - einem Banyankole aus dem verhassten Süden des Landes. Aber längst ist die Revolte zum Terror gegen die eigenen Leute geworden. Wenige kämpfen freiwillig für die Rebellen. Im Namen Gottes nimmt die LRA deshalb den Acholi-Familien ihre Töchter und Söhne, über 20 000 sind nach Schätzungen von UNICEF entführt worden. 30 000 Kinder flüchten jeden Abend zum Schlafen aus ihren Dörfern in die Städte. Die Rebellen rauben meist Jungen und Mädchen zwischen 9 und 14, die sich indoktrinieren und körperlich beherrschen lassen, die vielleicht sogar irgendwann vergessen, dass sie in einer Familie lebten, dass sie spielten und lachten, dass sie Kinder waren. Gladies und Benson sind genau im richtigen Alter. Sie sollen lernen zu töten.
Sechs Monate nach ihrer Entführung malt Gladies langsam mit Bleistift Druckbuchstaben auf Papier. „Das ist das erste Mal seit einem halben Jahr, dass ich schreibe. Dafür möchte ich als erstes Gott danken. Mein Name ist Gladies, ich bin 13 Jahre alt. Ich mag Kleider viel lieber als Hosen, manchmal lerne ich gern. Am 5. März haben mich die Rebellen entführt. Ich habe einen Jungen getötet. Er war elf Jahre alt, wie mein Bruder. Ich musste es tun, sonst hätten sie mich umgebracht.“ Gladies, 1,36 groß, kurz geschorene Haare, lächelt selten. Sie hat überlebt, sitzt auf einer Holzbank im Rehabilitations-Camp für ehemalige Kindersoldaten in der nord-ugandischen Stadt Gulu. Ihr Brief geht nach Australien; Gladies bedankt sich damit für Fußbälle und Sticker, die mit der Post kamen.
Hinter der vier Meter hohen Mauer streicht der Wind durch feuerrot blühende Tulpenbäume. Drinnen auf dem staubigen Platz spielen ein paar Jungs Fußball. An den Seiten stehen gemauerte Gebäude und die großen Zelte in denen bis zu 100 Kinder schlafen. Wie 500 andere Mädchen und Jungen wird Gladies in diesem Camp für mehrere Wochen betreut, die christliche Hilfsorganisation World Vision versucht, aus Killern wieder Kinder zu machen. Goretty Oyella betreut Gladies. Die 28-jährige Sozialarbeiterin ist eine temperamentvolle Frau mit kräftiger Stimme und breitem Lächeln. Ihr hat das Mädchen erzählt, wie sie entführt wurde. „Nur wenn die Kinder über ihre Zeit in der Gefangenschaft sprechen, können wir ihnen helfen, mit den Traumata fertig zu werden“, sagt Goretty. Für Gladies steht heute ein weiteres Gespräch an, in einer strohgedeckten Hütte, zwei Stühle, ein schwerer Holztisch, eine schwere Geschichte. Goretty sagt: „Du hast geschrieben, dass du gezwungen wurdest, einen Jungen umzubringen.“ Gladies kaut auf ihrer Unterlippe. Goretty lächelt sie aufmunternd an. „Magst du erzählen, was passiert ist?“ Gladies schweigt eine halbe Minute, ihr Blick bleibt hängen an dem Blechgitter vor dem Fenster. Langsam beginnt sie zu reden.
Es passierte wenige Tage nach Gladies' Entführung. Die Gruppe, vier Rebellen und die Kinder Gladies, Benson und David, zogen in der Dunkelheit los, um Maniok von den Feldern zu stehlen. Als David sich einen Moment unbeobachtet fühlte, schlug er sich in die Büsche, er rannte. Die Rebellen hörten die Äste knacken, verfolgten ihn. Nach einigen Minuten stellten sie David, trieben ihn fluchend mit Tritten und Schlägen ins Lager. Gladies sah ihn mit weit aufgerissenen Augen zurück kommen. Der Kommandant packte den Jungen und warf ihn auf den Boden. „Schlagt ihn!“, befahl er Benson und Gladies. Mit Knüppeln droschen sie auf ihn ein. Nach ein paar Minuten, David blutete aus Nase und Mund, schrie der Kommandant: „Aufhören!“ Der Junge lag wimmernd am Boden. Diesen Tag hatte er überlebt.
Am nächsten Morgen kroch der Kommandant aus seinem Zelt, er fluchte, hielt den Kopf schief, steifer Nacken, schlecht gelegen wahrscheinlich. Doch für ihn war der Junge Schuld, den er verprügeln gelassen hatte. Er brüllte: „David hat mich verhext!“ Die Rebellen zwangen David, sich hinzuknien, fesselten seine Hände an die Fußgelenke. Mit herausgestreckter Brust erwartete er seine Strafe, er weinte leise. Die Rebellen und die anderen Kinder standen im Kreis um den Jungen herum.
Der Kommandant sagte: „Gladies, du wirst ihn schlagen.“ Er gab ihr die Machete in die Hand. Gladies schrie: „Nein!“ - „Dann bringen wir dich um.“ Gladies schlug zu, mit der flachen Seite der Machete, „Pungus“ heißt das bei den Rebellen. „Fester!“ Sieben Mal zischte das Metall auf die weiche Haut des Jungen. David brüllte vor Schmerzen, Blut rann den Brustkorb herunter, dann blieb ihm die Luft weg. Einer der Rebellen zündete einen Kunststoffkanister an, befahl Gladies, den Jungen, 11 Jahre alt wie ihr Bruder, mit glühend heißem Plastik zu peitschen, Stücke davon in seine Nase und seine Ohren zu stecken. Dann schlugen alle noch einmal mit Knüppeln auf den Jungen ein. Sie ließen ihn liegen, gefesselt, direkt neben dem Lager. Niemand durfte ihm helfen. Gladies hörte ihn noch zwei Tage wimmern, dann war auch der letzte Rest Leben aus David gewichen.
„ Ich habe ihn umgebracht“, sagt Gladies. „Nach den Schlägen mit der Machete und dem Plastik war er eigentlich schon tot.“ „Fühlst du dich schuldig?“, fragt Goretty. Gladies blickt auf ihre Hände, legt den Kopf auf die Seite. „Nein, sie hätten mich getötet, wenn ich mich geweigert hätte. Und wenn die Rebellen ihn nicht so gefesselt hätten, wären die Schläge auch nicht so schlimm gewesen.“ Sie zögert einen Moment. „Aber manchmal fühle ich mich wie eine Mörderin.“ „Das bist du nicht“, sagt Goretty. „Die Rebellen wollten, dass du tötest, damit du eine von ihnen bist, damit du nicht mehr zurück kannst in dein früheres Leben. Aber das darfst du nicht zulassen, verstehst du? Du bist ein intelligentes Mädchen, du wirst nicht mehr rauben und morden, du wirst in die Schule gehen.“ Gladies lächelt ein bisschen. Es ist Gorettys Beruf, den Hoffnungslosen Hoffnung zu geben, manchmal hört sie Geschichten wie die von Gladies mehrmals am Tag. „Das hier ist mein Job“, sagt sie. „Ich lasse mich von den Geschichten nicht unterkriegen mit Gottes Hilfe!“
Goretty unterbricht das Gespräch, Mittagessen im Gemeinschaftsbüro. Während sie sich den Posho, den Maisbrei und die roten Bohnen auf den Teller schaufelt, stimmt sie einen Gospel an, „Good things will happen“, Samuel, ein Kollege brummt die zweite Stimme. Ein 12-jähriger Junge kommt herein, singt mit. Dann hält er sich ein geblümtes Kleid vor den Körper. „Das habt ihr mir gestern gegeben.“ Goretty lacht. „Steht dir doch ganz gut!“ Der Junge grinst, schüttelt den Kopf. Goretty wirft ihm ein T-Shirt hin und lacht.
Es gibt wenig, was Goretty aus der Fassung bringen kann. Einmal, vor zwei Jahren, ist es trotzdem passiert. Sie sprach mit einem 15-jährigen Jungen, der drei Jahre bei den Rebellen gewesen war. Er erzählte von einem Dorf, in dem seine Gruppe gemordet und geplündert hatte. „Wann war das? Wo war das?“ Goretty fragte ganz genau nach. Dann wusste sie: Der Junge ihr gegenüber war bei der Rebellengruppe, die ihre Großmutter und sieben Tanten und Onkel niedergemetzelt hatte. „Ich war fassungslos, musste kurz aus dem Raum gehen. Da sitzt also einer von denen, die deine halbe Familie umgebracht haben und du sollst ihm helfen! Ich musste mir klar machen, dass der Junge gezwungen worden war zu töten, dass er selbst ein Opfer ist. Er hat sich entschuldigt.“ Es gibt in dieser Gegend niemanden, der im Krieg keine Angehörigen verloren hat. Jeder kennt Kinder, die entführt wurden und zu Mordwaffen der Rebellen wurden.
Verantwortlich dafür ist Joseph Kony, der charismatische Führer der LRA. Würde er gefasst oder getötet, der Krieg wäre schnell vorüber, da sind sich die Sozialarbeiter in Gulu einig mit Politikern, westlichen Botschaftern und Journalisten. Bislang konnte Kony seine Kämpfer anscheinend davon überzeugen, dass er magische Kräfte hat, und dass die Befehle, die er gibt, göttliche Eingebungen sind. Der 40-jährige bezeichnet sich als Reinkarnation der Jungfrau Maria. Die Grausamkeit der LRA lässt ihn aber eher als Wiedergänger der ugandischen Schlächter Idi Amin und Milton Obote erscheinen, die das Land Jahrzehnte terrorisierten.
Viele Menschen in Nord-Uganda halten Kony für unsterblich. Bislang ist er der Regierungsarmee immer entkommen. Bis vor kurzem hatte er eine Basis im Südsudan. Er wurde von der dortigen Regierung zuerst unterstützt, dann geduldet, weil er die eine Rebellengruppe, die „Sudans People Liberation Army“, bekämpfte. Auf internationalen Druck hin haben die Sudanesen ihre Hilfe für Kony eingestellt, angeblich soll er sich mittlerweile wieder in Nord-Uganda aufhalten, seine Truppen sind in der Defensive. „Dieser Krieg wird bald zu Ende sein“, sagt Paddy Ankunda, Sprecher der ugandischen Armee in Gulu. Aber das sagen die Militärs seit Jahren.
Die ugandische Regierung wird im Westen als vorbildlich gepriesen, wegen ihrer Wirtschaftsreformen, der Pressefreiheit, der Bekämpfung von AIDS. Im Konflikt mit der LRA macht sie aber kaum Fortschritte. Präsident Yosewir Museveni kam 1986 durch einen Putsch an die Macht und setzt auf militärische Gewalt. 2002, als zum letzten Mal mit den Rebellen verhandelt werden sollte, ließ er die Gesandten Konys beschießen. Die USA und die EU-Staaten, die gemeinsam 48 Prozent des ugandischen Haushalts finanzieren, drängen die Regierung seit Jahren, nicht nur zu kämpfen, sondern auch zu verhandeln. Erst auf ihren Druck hin wurde ein Amnestiegesetz für die Mitglieder der LRA erlassen. Seit dieses gültig ist, sind viele Rebellen zur Armee übergelaufen.
Umso größer ist die Herausforderung für die humanitären Helfer, 80 Prozent der Rebellen sind Kinder.“Unser Camp ist jetzt schon voll, wir haben zu wenig Zeit für die einzelnen Kinder“, sagt Goretty Oyella.
Es ist Nachmittag, ein weißer Pick-Up holpert über die Schwelle ins Camp. Auf der Ladefläche sitzen und stehen neun Jungen und Mädchen, eine trägt einen Säugling im Arm. Ernste Mienen, verschränkte Arme. Was wird dieses Leben als nächstes bringen? Der Wagen hält, langsam steigen die Neuankömmlinge von der Pritsche. Es sind die ersten Schritte auf dem Weg zurück in die Kindheit. Die Glocke wird geschlagen, wie immer, wenn neue Kinder kommen, das Camp erwacht. Flipflops schlappen über die rote Erde, Kinder rennen aus allen Ecken herbei. Manche reißen die Arme nach oben, kreischen „Huhuhuhu!“, übermütiges Indianergeheul, rhythmisches Klatschen. Der Moment wirkt, wie ein Sieg der kindlichen Lebensfreude über das Grauen des Rebellenlebens. Jedes Kind hier weiß: Die Neuen kommen direkt aus der Hölle. Es ist, als ob alle noch einmal die eigene Befreiung feiern. Ein etwa 12jähriger Junge in einem Prince T-Shirt, Größe XXL, singt aus vollem Hals „Iwa yom Lubanga olarowa, iwa - wir sind glücklich, weil Gott uns gerettet hat.“ Ein Chor von mittlerweile an die 100 Kindern stimmt ein: „Ka wa nene - wenn wir uns ansehen. Ka wa mare - wenn wir uns lieben.“
Auch Gladies hatte gehofft, dass ihr Bruder auf dem Wagen sei, aber er ist nicht dabei. Sie singt und klatscht trotzdem mit. Ein Fußball donnert auf ein Wellblechdach, die Neuankömmlinge zucken zusammen, schauen sich ängstlich um, die anderen Kinder lachen. Die Neuen stehen noch etwas verschüchtert vor dem Auto. „Viele Kinder haben im Krieg ihr Lachen verloren. Sie wissen nicht mehr, was es heißt, Spaß zu haben“, sagt Goretty. Es ist ein langer Weg zurück, vom Killer zum Kind.
Eine Stunde später, Goretty zieht sich wieder mit Gladies zum Gespräch zurück. Über ein Thema haben die beiden noch nicht gesprochen haben. „Hast du einen Mann gehabt im Busch?“, fragt die Sozialarbeiterin das Mädchen. Gladies zieht mit beiden Händen ihr Kleid über die Knie. Sie nickt.
Eine Woche nach Gladies' Entführung fragte der Kommandant sie: „Hattest du schon mal Sex?“ Gladies sagte: „Nein.“ „Glaubst du, du kriegst es hin, wenn ich es mit dir machen will?“ „Nein!“ Der Anführer drehte sich um, ging zu den anderen Soldaten. Essen zubereiten, Lasten schleppen, das waren die Pflichten, die sie schon kannte. Die Dämmerung brach herein über dem kleinen Lager, vier Zelte, im Kreis aufgeschlagen, um die Feuerstelle. „Du schläfst bei mir heute Nacht“, sagte der Kommandant nach dem Essen, die anderen Rebellen gingen weg, er schob das Mädchen zu seinem Zelt. Dort erzählte er ihr, er sei 16 Jahre alt. Gladies hockte in der Ecke und sagte gar nichts, sie schätzte ihn auf 36. Sie spürte seinen Atem näher kommen, sie wusste nicht, was jetzt kommen würde, aber sie ekelte sich. Er packte sie an der Schulter, riss Gladies, die noch keine Menstruation hatte, das Kleid, die Unterhose vom Leib, drückte sie zu Boden. Sie heulte, schrie, er hielt ihr den Mund zu. Die anderen Rebellen, der kleine Bruder, sie waren nur ein paar Meter entfernt. Gladies ist sich heute sicher, dass sie hörten was passierte, doch niemand kam, um ihr zu helfen, auch nicht am nächsten Abend, in den nächsten Wochen und Monaten.
„ Ich weine nicht mehr“, sagt Gladies heute. Sie wickelt einen schwarzen Bindfaden um ihren Finger. „Ich will niemals heiraten.“ „Ach was“, sagt Goretty , sie lächelt, legt den Arm um das Mädchen. „Ich habe einen Mann, einen kleinen Sohn, das ist schön. In einer Ehe zwingt dich niemand zu etwas. Du hast kein Kind aus dem Busch mitgebracht, du bist gesund. Dass du missbrauchst wurdest, bedeutet nicht das Ende des Lebens. Ich kenne viele, die ein normales Leben führen, nachdem sie das gleiche erlebt haben.“ Nach einer Weile sagt Gladies: „Wenn ich mich umschaue, dann sehe ich, dass ich nicht alleine bin, dass es vielen sogar schlechter geht als mir.“
Es gibt Patrick, 17, der neun Jahre bei den Rebellen war, nicht lesen und schreiben kann, dem im ganzen Körper Kugeln und Granatsplitter stecken, der nicht weiß, wie viele Menschen er im Kampf umgebracht hat, der aber weiß, dass die Rebellen, für die er kämpfen musste, seine Eltern ermordet haben.
Es gibt Beatrice, 17, ebenfalls neun Jahre im Busch, die zwei Kinder von einem Kommandanten hat, die sie durchbringen muss, die wohl keine Chance hat, wieder zur Schule zu gehen.
Und es gibt Albert, 15, dem die Rebellen Finger, Ohren und Lippen abschnitten, bei dem es drei chirurgischer Operationen bedurfte, um im wieder ein halbwegs menschliches Gesicht zu geben.
Wenn sich Leid relativieren lässt, gehört Gladies zu den Glücklichen, die noch eine Perspektive haben. Wenn sie sich etwas wünschen könnte, sagt sie, wäre das, im nächsten Jahr auf eine weiterführende Schule zu gehen. Vielleicht können die Eltern das Schulgeld aufbringen. Erst einmal freut Gladies sich auf ihre Familie, die sie in ein paar Tagen wiedersehen wird, in Angaba, ihrem alten Dorf. Sie freut sich auf die Lehrer, auf ihre Klasse. Aber etwas trübt diese Freude, es ist das Schicksal von Benson, dem kleinen Bruder.
An dem Tag, an dem Gladies entkam, kochte sie mal wieder für die Rebellen. Nur einer von der Gruppe blieb bei ihr, die anderen und ihr Bruder Benson waren auf der Suche nach Feldern, die sie bestehlen wollten. Gladies röstete also Maniok, ihr Aufpasser saß da, mit dem Rücken an einen Baum gelehnt, und beobachtete sie. Als das Mädchen sich nach ihm umdrehte, merkte sie, dass er eingeschlafen war. Sie röstete weiter Maniok, blickte ein paar Minuten später noch einmal zu ihm hin. Sie wusste, wenn sie flieht und dann gefangen wird, drohen ihr furchtbare Prügel, Verstümmelung oder der Tod. Kurz dachte sie an ihren Bruder, er müsste Gladies schlagen vielleicht sogar töten, wenn sie erwischt würde. Was wird aus Benson, wenn sie weg ist?
Gladies zögerte, dann dachte sie an den Kommandanten, wie er sich auf sie warf, jede zweite Nacht, wie er sie schlug und demütigte. Sie schlich sich ein paar Meter weg, noch hätte sie sagen können, sie wolle Holz holen, für das Feuer. Sie schaute sich noch einmal um, ihr Bewacher schlief. Gladies rannte, zwei, drei Stunden lang, sie weiß es nicht mehr, Tränen liefen ihr über das Gesicht, aus Angst und weil sie ihren Bruder zurück gelassen hatte.
Schließlich kam sie an eine Straße, ein Auto nahm sie mit zum nächsten Militärposten. Sie flehte die Soldaten an, die Rebellen zu verfolgen, ihr Bruder, sie hatten doch noch ihren Bruder! „Fünf Leute im Dschungel, wie sollen wir die finden?“ Sie suchten nicht. Am nächsten Tag holten die Mitarbeiter von World Vision Gladies ab.
Inzwischen haben die Rebellen den Bruder vielleicht vorgeschickt, in den Kugelhagel, als die Regierungssoldaten kamen, so wie sie ist immer tun, wenn es gefährlich wird. „Vielleicht haben sie Benson auch tot geschlagen, weil ich abgehauen bin“, sagt Gladies. „Es ist gut, dass du geflohen bist“, sagt Goretty. „Bete für deinen Bruder.“
Halb sieben am Abend im Camp, die Dämmerung bricht herein, Goretty geht nach Hause, jetzt hören die Kinder zu, dem Ghettoblaster: afrikanischer Pop, leicht und zuckersüß. Patrick, der 17-jährige mit den Granatsplittern im ganzen Körper, drängt zur Tanzfläche. „Ich will jetzt einfach mein Leben genießen, im Busch hatte ich jeden Tag Angst zu sterben, durch die Rebellen oder die Soldaten.“ Neun Jahre hat Patrick nicht getanzt, heute wird er ein bisschen was nachholen. Er hebt die Arme über den Kopf, klatscht den Rhythmus mit. Die Kinder kreisen mit den Hüften, weiße Zähne blitzen im Dunklen auf, der Abend ist ein Lächeln. Gladies sitzt auf einer Bank und schaut zu, sie denkt an ihren Bruder. Wenn er wieder kommt, wird sie tanzen, sagt sie, ein ganzes Jahr lang.

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