Er
malte um sein Leben
NZZ
am Sonntag 05.07.09
Der
kambodschanische Künstler Vann Nath
gehört zu den
wenigen, die das berüchtigte Gefängnis S-21 der Roten
Khmer überlebt haben – weil er für das Regime
malte.
Eigentlich
hatten die Roten Khmer Vann Nath schon alles genommen an diesem Tag
im Dezember 1977. Vom Maler hatten sie
ihn zum Feldarbeiter gemacht, vom Bürger zum Sklaven. Aber das
war harmlos im Vergleich zu dem, was begann, als das Kommando der Roten
Khmer plötzlich vor ihm stand. Es waren junge Männer, wohl
unter 20. Sie trugen blaue Halstücher, Mao-Mützen, olivgrüne
Uniformen und waren mit Sturmgewehren bewaffnet. Einen kannte Vann
Nath, er lebte in einem Nachbarort. Doch der wich seinen Blicken aus. „Du
hast gegen die Werte von Angka verstoßen“, sagte der Anführer
zu ihm.Angka, die „Organisation“, war der Deckname der
Kommunistischen Partei, die Kambodscha zwischen 1975 und 1979 beherrschte.
Unter ihrer Herrschaft wurden 1,7 Millionen Menschen getötet.
KP-Chef Pol Pot wollte einen Agrarstaat errichten, die Intellektuellen
und alle westlich geprägten Kambodschaner auslöschen - Vann
Nath zählten die Roten Khmer dazu. Bis heute ist niemand für
ihre Morde zur Rechenschaft gezogen worden.
Seit 2006 bemüht sich ein von den Vereinten Nationen initiiertes
Gericht in Kambodscha, fünf Führer der Roten Khmer zu verurteilen.
Der erste Prozess läuft im Moment, angeklagt ist Kaing Guek Eav,
den in Kambodscha alle „Duch“ nennen - heute wird der mutmaßliche
Massenmörder dem 63-jährigen Zeugen Vann Nath im Gerichtssaal
gegenüberstehen. Duch war Leiter des berüchtigten Gefängnisses
S-21. 13000 Menschen wurden hier gefoltert und dann auf den Killing
Fields außerhalb Phnom Penhs ermordet. Zwölf Häftlinge überlebten.
Vann Nath hatte nie von diesem Gefängnis gehört, als die
Soldaten mit den Sturmgewehren vor ihm standen. Er konnte nicht ahnen,
dass er schon bald vor Duch knien sollte. Aber er wusste: Niemand,
den die Roten Khmer auf diese Weise abgeholt hatten, war je zurückgekommen.
32 Jahre später in Vann Naths Galerie, im Hinterzimmer eines
Restaurants in der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh. Auf einem
seiner Gemälde sind die Schergen des Regimes zu sehen, wie sie
einen Mann mit nackten Füßen und leerem Blick abführen – Vann
Nath. Er hat die Szene mit Acrylfarbe auf Leinwand gemalt. Jetzt sitzt
er auf einem Stuhl vor dem Gemälde, die Beine übereinander
geschlagen. Sein Haar ist schlohweiß und mit seiner weichen,
leisen Stimme klingt er wie ein gütiger Großvater, selbst,
wenn er von seiner schrecklichen Vergangenheit erzählt.
Auf einem Lastwagen wurde er zum Verhör gebracht. „Zu welchem
Netzwerk gehörst du?“ Vann Nath verstand nicht, sie brüllten
ihn an, legten ihm Kabel, deren Isolation an einem Ende abgeschält
war, auf die Haut. Wie ein Blitz durchzuckte ihn der Stromschlag,
er schrie vor Schmerzen. „Arbeitest du für die CIA?“ Vann
Nath hatte vom US-Geheimdienst noch nie gehört, er sagte nein.
Daraufhin bekam er einen weiteren Stromschlag. Schließlich log
er, er arbeite für die CIA, und unterschrieb sein Geständnis.
Am nächsten Tag brachte ein Lastwagen ihn und 30 Mithäftlinge
nach Phnom Penh, zum Gefängnis S-21.
Etwas südlich des Zentrums der kambodschanischen Hauptstadt liegt
heute die Gedenkstätte Toul Sleng, eine ehemalige Schule, die
die Roten Khmer zum Gefängnis S-21 machten. Man hat es weitgehend
so erhalten, wie die Vietnamesischen Truppen es vorfanden bei der
Befreiung 1978: Ein hoher Wellblechzaun vor der ursprünglichen
Begrenzungsmauer des Schulhofs, dazwischen ein Meter gefüllt
mit Stacheldraht, dahinter der Betonbau, drei Stockwerke, Flachdach.
Im Hof steht eine Reckstange, an der Kinder turnten, bevor die Roten
Khmer kamen. Sie hängten Gefangene kopfüber daran auf, versenkten
ihre Oberkörper minutenlang in Wasserkübel - eine der Folter-Methoden,
die unter Duch praktiziert wurden.
Als Vann Nath im Januar 1978 hierher kam, waren seine Augen verbunden,
er spürte kalten Betonboden unter seinen Füßen, dann
etwas Raues um seinen Hals. Wärter legten ihm und den anderen
Gefangenen einen Strick um den Hals. Zusammengebunden mussten sie
los marschieren, wenn einer hinfiel riss er die anderen mit um. Vann
Nath hört die Wärter heute immer noch spotten. „Wie
die Blinden“. Sie machten sich einen Spaß daraus. „Bücken!“ riefen
sie. Die Gefangenen gehorchten - und die Wärter lachten. Einer
zog vorne an dem Seil, die Häftlinge stolperten hinterher, eine
Treppe hinauf. Oben nahm man einem nach dem anderen die Augenbinde
ab, erfragte Alter und Beruf und fotografierte jeden, von vorne und
im Profil. „Wenn sie den Aufwand betreiben, werden sie uns wohl
nicht umbringen“, dachte Vann Nath.
Heute hängen die beiden Fotos, die bei seiner Ankunft in Toul
Sleng gemacht wurden, in seiner Galerie in Phnom Penh. Ein Mann mit
Schnauzbart, mager, Angst in den Augen. Daneben: Vann Naths Leidensgeschichte
in Gemälden. Die Bilder zeigen: Seine Hoffnung, dass ein Menschenleben
hier einen Wert haben würde, sie war falsch.Der Wärter stieß eine
Tür auf. Vann Nath sah 30 Männer auf dem nackten Boden liegen,
jeweils zu fünft mit den Füßen zusammen gekettet.
Sie waren leichenblass und abgemagert. Er lernte schnell, warum. Die
Mahlzeiten bestanden aus zwei Esslöffeln Reissuppe morgens und
abends. Manchmal flogen nachts Insekten in die Zelle, verschmorten
an der Glühbirne und fielen von der Decke. Die Gefangenen aßen
sie. Fast jeden Tag starb jemand in der Zelle, an Hunger oder an den
Folgen der Folter. Vann Nath erinnert sich, wie er Tage lang neben
Leichen in der Zelle lag.
Vor einer Stellwand steht ein Kambodschaner um die 50. Mit ernstem
Blick betrachtet er die Fotos der Ermordeten, ein Kameramann eines
japanischen Fernsehsenders filmt ihn dabei. Ein Opfer des Regimes
am Ort seiner Misshandlung? Dem Reporter aus Deutschland erzählt
er von seinem Bruder, der hier umgebracht worden sei. Seinen Namen
will er nicht nennen. Später stellt sich heraus: Dieser Mann,
namens Som Met war einer der Wärter von Tuol Sleng. Dem Fernsehsender,
der ihm Geld zahlt, sagt er, er sehe sich auch als Opfer Er sei gezwungen
worden zu töten, um nicht selbst ermordet zu werden.
Die Eisenstangen,
an die jeweils fünf Häftlinge gekettet
waren, und verrostete Stahlkisten, in die sich die Häftlinge entleeren
mussten, liegen noch heute in Toul Sleng. Die Fotos, die nach der Ankunft
von den Häftlingen gemacht wurden, hängen auf Stellwänden.
Tausende Gesichter blicken einen hier an. Männer und Frauen, die
vielleicht ahnten, dass sie nicht mehr lange leben würden - und
Kinder. Eines ist höchstens drei Jahre alt. Die Roten Khmer mordeten
bestialisch, und sie führten bürokratisch genau Buch über
ihre Taten. Von jedem Häftling gibt es Fotos und eine Akte mit
den unter Folter erpressten falschen Geständnissen.
Vann Nath hat
seinen Peinigern gegenüber gesessen. Der kambodschanische
Regisseur Rithy Panh hat ihn für seinen Dokumentarfilm „S-21:
The Khmer Rouge Killing Machine“ 2003 mit ehemaligen Wärtern
von Tuol Sleng zusammen gebracht. In einer Szene steht Vann Nath vor
einem Gemälde, auf dem die Zelle dargestellt ist, in der er eingesperrt
war. Ihm gegenüber fünf ehemalige Wärter. Er erzählt,
wie die Aufseher mit Häftlingen mit Eisenstangen auf den Kopf
schlugen, wenn sie eine falsche Bewegung machten. „Wie konntet
ihr euch an diese Brutalität gewöhnen?“ fragt er sie
mit zitternder Stimme. Einen Moment ist es still. Dann antwortet einer: „Das
Büro sagte uns: Wenn die Partei jemanden eingesperrt hat, ist
er ein Feind.“ Ein anderer sagt: „Nichts stand über
Angka. Wenn sie uns befahlen, unsere Verwandten, unsere eigenen Frauen
und Kinder zu töten, taten wir das.“
„ Und ihr habt nicht selbst nachgedacht? Was ist mit den Kindern, die
noch nicht einmal laufen konnten? Wie konnten sie Feinde sein?“
„ Die Partei machte keine Fehler.“
„
Ihr habt jede Fähigkeit verloren, wie menschliche Wesen zu fühlen.“ Vann
Nath atmet schwer und wendet sich ab. Im Laufe des Films sagt einer
der Wärter: „Ich war jung, ich war heißblütig,
ich machte alles, was Angka mir befahl. Heute schäme ich mich
dafür.“ Man muss den Wärtern vielleicht zugute halte,
dass viele als Teenager zu den Roten Khmer kamen und dort massiv indoktriniert
wurden.
Eines Tages kamen
die Wärter, um Vann Nath zu holen. Man legte
ihm Handschellen an. Er konnte kaum stehen vor Schwäche, er war
sicher, dass sie ihn jetzt umbringen würden. Die Wärter führten
ihn in einen Raum, wo ein Mann in Uniform auf einem Sofa saß. „Begrüße
den Kameraden Duch“, sagte der Wärter zu ihm. Vann Nath
tat wie ihm geheißen und sank dann vor Schwäche auf die
Knie. „Wie lange hast du als Maler gearbeitet?“, fragte
ihn der Gefängnischef. „Zehn Jahre“, sagte Vann Nath. „Kannst
du ein Bild malen?“, fragte Duch. Vann Nath sagte: „Ich
versuche es.“
Er durfte sich satt essen, dann wurde er in einen Raum geführt,
wo Leinwände und Farben standen. Duch gab ihm das Bild eines Mannes,
den er malen sollte. Vann Nath hatte ihn nie gesehen, später sollte
er erfahren: Es war Pol Pot. Zitternd begann er mit dem Gemälde,
Duch schaute ihm zu. Vann Nath malte um sein Leben.
Das erste Porträt misslang. Duch betrachtete es, schüttelte
den Kopf - und gab Vann Nath noch eine Chance. Das zweite Gemälde
war schon näher am Original. Vann Nath war fürs Erste gerettet.
Er durfte in dem Raum schlafen, in dem er malte, er bekam mehr zu essen.
Trotzdem wusste er, dass sein Leben mit jedem Bild zu Ende sein konnte.
Mehrere Maler, das hatte er inzwischen erfahren, hatten schon hier
gearbeitet. Am Ende waren die meisten ermordet worden. Duch beobachtete
ihn oft bei der Arbeit. Vann Nath bemühte sich, den Pinsel behutsam
zu führen, damit es nicht wirkte, als missachte er Pol Pot. Der
Gefängnisleiter erzählte ihm von Van Gogh und Picasso. Vann
Nath hatte nie von ihnen gehört. Von draußen hörte
er die Schreie der Gefolterten. Wenn die Sonne untergegangen war, lauschte
er dem An- und Abfahren der Lastwagen. Mit ihnen wurden nachts Häftlinge
nach Choeung Ek, 17 Kilometer entfernt vom Gefängnis, gebracht.
Ein heißer Nachmittag in Choeung Ek im Jahr 2009, Kleinbusse
bringen Touristengruppen. Auf einem gepflegten Rasen erhebt sich ein
weißer Turm. Hinter der verglasten Front leuchten grell-weiß menschliche
Schädel, 5000 sollen es sein. Fast alle sind eingeschlagen. Wenige
Meter entfernt sieht man, halb bedeckt von Erde, eine blaue Hose liegen,
Gefangenenkleidung. Daneben glänzen Knochensplitter und Zähne
auf dem Boden. Jeder Regenguss fördert neue Knochen und Kleidungsstücke
zutage. Tausende Tote liegen wohl noch in dieser Erde.
Choeung Ek ist das bekannteste von über 300 „Killing Fields“ der
Roten Khmer. Jede Nacht wurden 200 Häftlinge aus Toul Sleng hierher
gebracht. Es empfing sie laute Tanzmusik, Duch saß, so hat es
ein ehemaliger Wärter in einem Dokumentarfilm erzählt, auf
einer Matte im Gras und rauchte. Er schaute zu, wie die Häftlinge
an den Rand einer Grube geführt wurden. Man schlug ihnen mit einer
Eisenstange auf Kopf und Genick, dann wurde ihnen die Kehle aufgeschnitten.
Kinder wurden ermordet, indem die Henker sie am Bein packten und sie
gegen einen Baum schlugen, bis sie tot waren. Menschen zu erschießen,
galt dem Regime als Verschwendung von Munition.
Am 7. Januar 1979 hörte Vann Nath Artillerie. Wärter holten
ihn aus seiner Zelle und brachten ihn in den Hof. Die vietnamesische
Armee stand vor Phnom Penh, die Roten Khmer flohen. Vann Nath und andere
Gefangene, die Duch nützlich gewesen waren, nahmen sie mit. Unterwegs
gab es Gefechte zwischen Vietnamesen und Roten Khmer. Vann Nath und
sechs andere Gefangene nutzten die Chance zur Flucht - sie gehören
zu den wenigen Häftlingen, die überlebten.
Besucht man die Gedenkstätten Choeung Ek und Toul Sleng, sieht
man nur selten Kambodschaner. Das Land erlebt durch den Tourismus einen
leichten Aufschwung. Von der Vergangenheit wollen viele Menschen nichts
mehr wissen. Premierminister Hun Sen war zwar am Sturz des Pol-Pot-Regimes
beteiligt, vorher jedoch selbst bei den Roten Khmer. Er hat ehemalige
ranghohe Kader begnadigt. Heute kommen die blutigen Jahre unter Pol
Pot kaum einmal im Schulunterricht vor.
„
Es macht mich traurig, dass meine Landsleute sich nicht für die
Verbrechen der Roten Khmer interessieren“, sagt Vann Nath. Zum
Schulunterricht möchte er nichts sagen. Kambodscha ist heute eine
Demokratie, aber, das hört man immer wieder, die Mächtigen
kritisiert man besser nicht öffentlich. Im vergangenen Jahr wurden
ein kritischer Journalist und sein Sohn erschossen, die Hintergründe
sind bis heute ungeklärt.
Das aktuelle Tribunal gegen Führungspersonal der Roten Khmer,
initiiert von den Vereinten Nationen, soll in Kambodscha als Vorbild
für rechtsstaatliche Strafverfolgung dienen. Aber das Verfahren
zieht sich hin. 2003 einigten sich Kambodscha und UN auf eine Vorgehensweise;
es dauerte bis Februar 2009, bis die erste Verhandlung gegen Duch stattfand. „Ich
habe auf Gerechtigkeit gehofft“, sagt Vann Nath. „Aber
ich bin sehr erschöpft - soll das Verfahren dauern, bis alle Verantwortlichen
tot sind?“
Zumindest gegen Duch, er ist heute 66, wird in diesem Jahr ein Urteil
erwartet, ob seine weitaus älteren Vorgesetzten aus der Zeit der
Roten Khmer noch verhandlungsfähig sind, wenn die Beweisaufnahme
abgeschlossen sein wird, ist ungewiss.
Vann Naths Blick ist traurig, er lässt die Schultern sinken, wenn
er von dem Prozess spricht. Er steht zwischen den Gemälden, die
die Szenen seines Leidens zeigen, Verhaftung, Folter, Hunger. Ganz
hinten in einer Ecke der Galerie hängt ein einziges Bild, das
nichts mit seiner Haft zu tun hat. Es zeigt einen Wasserfall, flankiert
von Bäumen in sattem Grün vor einem blauen Himmel. Die Natur,
das Leben - das hätten vielleicht die Themen seines Werks werden
können. Aber Vann Nath konnte es sich nicht aussuchen. |