Kunst
am Kopf
Die
Zeit 09.09.04
Nach
Jahrzehnten erscheint erstmals ein Anatomieatlas, der vollständig
neu illustriert wurde. Auch im Zeitalter der Fotografie ist
das Handwerk gefragt. Acht Jahre lang haben zwei Grafiker daran
gearbeitet.
Die
Abendsonne scheint in ein freundliches Gruselkabinett. Ein hoher Raum
in einem Jugendstilhaus in Berlin Friedenau, Parkettboden, Stuck.
Zwei Totenschädel grinsen aus einem Schuhkarton, eine Wirbelsäule
liegt quer über einem aufgeklappten Buch. Darin ein Foto mit
einem Motiv, das auf den ersten Blick aussieht wie eine Pizza. Tatsächlich
handelt es sich um einen Querschnitt durch den menschlichen Bauchraum.
Von der Wand neben dem Schreibtisch baumelt ein Skelettarm. »Früher
habe ich die Knochen nur mit Handschuhen angefasst, aber mit der Zeit
habe ich meine Scheu vor ihnen verloren«, sagt Karl Wesker.
Seit 1996 arbeitet der heute 51-jährige Grafiker gemeinsam mit
seinem Münchner Kollegen Markus Voll an Prometheus, dem neuen
Anatomielehrbuch, dessen erster Band soeben im Stuttgarter Thieme-Verlag
erschienen ist (542 Seiten, 64,95 Euro). Prometheus ist der erste
komplett neu gezeichnete Anatomieatlas seit Jahrzehnten.
Eigentlich war allen Fachleuten klar, dass es nie wieder ein solches Werk geben
würde. Anfang der neunziger Jahre hatte ein großer Fachverlag einen
Kostenvoranschlag machen lassen - und angesichts der Zahlen das Projekt schockiert
fallen gelassen: zu teuer. Am Sobotta, dem jetzt neu aufgelegten Standard-Anatomieatlas
für Medizinstudenten, zeichneten 15 Grafiker mehr als 20 Jahre lang. Das
war vor 100 Jahren. Heute wäre ein solches Projekt unbezahlbar. Dass Prometheus
jetzt erscheint, ist moderner Technik zu verdanken.
Präparierte Leichen sind im Original recht unansehnlich
Aber warum überhaupt noch Zeichnungen, wo es doch Fotografien gibt? »Die
Strukturen sehen bei präparierten Leichen ganz anders aus als auf anatomischen
Zeichnungen«, sagt Karl Wesker. In seinem Arbeitszimmer stapeln sich viele
Fotos, die auf dem Seziertisch aufgenommen wurden. Die Muskeln darauf sind nicht
rot, die Sehnen nicht weiß. Durch die Konservierung in Formalin bekommt
das Gewebe einen braunen Farbton. Zeichnungen dagegen idealisieren, betonen
bestimmte Aspekte und sind damit zum Lernen ungleich wertvoller als Fotos. Medizinstudenten
lernen die Anatomie zu Beginn ihres Studiums - und sind mit den verfügbaren
Lehrbüchern oft überfordert. »Die alten Atlanten zeigen Bilder,
die überfrachtet sind mit Hinweislinien«, sagt Wolfgang Kühnel,
Vorsitzender der Deutschen Anatomischen Gesellschaft. »Aber in den Details
geht häufig unter, was für die Klinik wichtig ist und was nicht.« Das
will Prometheus ändern, in Übereinstimmung mit der neuen Approbationsordnung,
die einen stärkeren Bezug zur klinischen Praxis bereits für das medizinische
Grundstudium vorschreibt.
Ortswechsel: Universität Hamburg, Anatomisches Institut II. Ein sachliches
Büro, weiße Wände, weiße Möbel. Nach High-Tech sieht
es nicht gerade aus bei Udo Schumacher, Anatomieprofessor und - zusammen mit
seinen Kollegen Michael Schünke und Erik Schulte - verantwortlicher Autor
von Prometheus. Der Tisch liegt voll mit DIN-A3-Blättern. Sie sind beklebt
mit Schwarz-Weiß-Abbildungen, auf die Pfeile und Kommentare gekritzelt
sind. Die Collagen wirken, als hätte ein Lehrer eilig aus verschiedenen
Büchern Kopiervorlagen für seine Schüler zusammengeschustert.
Doch der Anatom Schumacher und der Verlagsprojektleiter Jürgen Lüthje
schaffen hier mit Schere und Pritt-Stift die Grundlage für den neuen Anatomieatlas,
Band III.
Der wird Kopf und Nervensystem zum Thema haben - im zweiten geht es um die inneren
Organe, im ersten, dem jetzt erschienenen, um den Bewegungsapparat.
»Wir gehen umgekehrt vor - ganz anders, als es bei der Erstellung von Anatomien
bislang der Fall war«, sagt Schumacher. Bisher stand am Anfang das Aquarell,
abgemalt von besonders gut präparierten Leichen. Die Nadeln und Klammern,
die das Fleisch auseinander halten, sind oft mit auf dem Bild. Das Ganze wurde
dann beschriftet - und fertig war die didaktische Aufbereitung.
»Bei der neuen Anatomie fragen wir uns zuerst: Was sollen die Studenten
sehen? Und das geben wir unseren Grafikern als Regieanweisung.«
Deshalb sitzen Schumacher und Lüthje jetzt da und blättern in Büchern,
zum Beispiel in einem über Augenheilkunde, Kapitel Tränenkanäle.
Die verstopfen häufig, können aber durch eine Spülung frei gemacht
werden. Deshalb will Schumacher eine Zeichnung, auf der das gesamte System der
Tränenkanäle zu sehen ist. »Es hat keinen Sinn, den Studenten
das erst in der Klinik beizubringen«, sagt er. »Man lernt viel besser,
wenn man weiß: Das brauche ich später als Arzt!«
Ein anderer Lerninhalt ist allerdings schwieriger zu vermitteln als der Verlauf
der Tränenkanäle: die Auswirkungen von schnell wachsenden Tumoren
im Kopf. Die drücken das Gehirn oft gegen Scheidewände im Schädel
und verursachen dadurch neurologische Ausfälle. Schumacher will deshalb
eine Zeichnung im Atlas, auf der die Scheidewände und das Gehirn zu sehen
sind, eine schwierige Aufgabe für die Grafiker. »Wir nehmen das Gehirn
von Herrn Voll, den Schädel von Herrn Wesker und stellen beides transparent
dar«, schlägt Udo Schumacher vor. »Dann müssten die Scheidewände
klar zu sehen sein.« Lüthje nickt. »Ja, da müssen die
beiden Grafiker ein bisschen basteln.« Dann ist die Sitzung beendet, Lüthje
wird dafür sorgen, dass die Zeichner die neuen Aufträge bekommen.
Auf Karl Weskers Schreibtisch liegen ein Schädel und, aufgeschlagen, fünf
Anatomieatlanten, darin Fotos und Zeichnungen von Präparaten der Halswirbelsäule.
Eines der Bücher stammt aus dem 19. Jahrhundert. Abgesehen von den Knochen,
malt Wesker nicht nach Originalen. Er setzt das Bild zusammen aus den Kopien,
die er vom Autor bekommt, vor allem aber aus dem, was er in den vorhandenen
rund 40 Atlanten findet, immer auf der Suche nach der didaktisch wertvollsten
Darstellungsform. »Letztlich erfinde ich den Muskel, den ich zeichne«,
sagt er. Plagiatsvorwürfe gab es schon, weil er den Arm genauso zeichnete
wie in einem älteren Lehrbuch, aber das ficht Wesker nicht an. »Der
Arm ist in Atlanten aus dem 19. Jahrhundert schon so dargestellt worden. Wir
wählen das aus, was didaktisch am sinnvollsten ist.«
Karl Wesker zeichnet zwei Kreise auf eine Kunststoffplatte, die Augenhöhlen.
Die Plastikspitze seines Stifts hinterlässt keine Spuren auf dem digitalen
Zeichenbrett, der Schädel entsteht auf dem Bildschirm. »Viele denken,
der Computer zaubert die Bilder, aber das ist richtige Handarbeit«, sagt
er.
Während er mit der Rechten über das Zeichenbrett huscht, liegt seine
Linke auf der Tastatur. Mit ihr schaltet er um von »Grafitstift« auf »Sprühdose«.
Wesker benutzt das Programm, das viele auf ihrem Privatcomputer haben: Photoshop.
Wenn er bei eingestellter Spray-Funktion mit dem Stift auf das Zeichenbrett
drückt, legt sich auf dem Bildschirm eine feine Farbwolke auf die Schädeldecke.
Damit füllt er die großen Flächen auf der Stirn.
Dann kommt die Feinarbeit. Wesker zoomt so nahe an den Schädel heran, dass
man in die Augenhöhlen kriechen könnte, wäre der Bildschirm groß genug.
Bis auf eine (theoretische) Fläche von 2,2 mal 2,2 Meter kann er sein Bild
am Computer vergrößern, ohne dass es unscharf wird. Er macht ein
paar feine Striche, Licht und Schatten am Jochbein, und zoomt wieder heraus.
Nach einer halben Stunde ist die Skizze schon plastisch, nach vier Tagen ist
der Schädel fertig.
»Eine Abbildung, für die ich auf Papier zwei Monate gebraucht habe,
mache ich heute an einem Tag«, sagt Wesker. Und Katastrophen, die die Arbeit
von Wochen zerstören können, gibt es nicht mehr. Weder der Farbklecks
ist ein Problem noch der Autor, der Änderungen wünscht, nachdem das
Aquarell fertig ist.
Photoshop hat die Funktion »Radiergummi«. Außerdem kann der
einmal gemalte Schädel für verschiedene Abbildungen verwendet werden,
zum Beispiel um das Auge, die Nase oder die mimischen Muskeln darzustellen. »Die
Technik ist wirklich genial, aber manchmal fehlt mir das Haptische, dass ich
mein Arbeitsmaterial anfassen kann«, sagt Wesker. Früher war er Maler
- in der Ecke seines Arbeitszimmers stehen abstrakte Ölbilder, anderthalb
Meter hoch, abgedeckt mit Plastikfolie. Seit seinem letzten Geburtstag hängt
an der Decke ein Geschenk seiner 15-jährigen Tochter, ein Mobile mit Körperteilen.
Zehn Stunden lang sitzt er im Durchschnitt jeden Tag vor dem Bildschirm, ist
mit den Gedanken ständig bei dem Projekt. »Ich liebe die Zeichnungen.
Mir tut es um jede leid, die ich nicht selbst gemacht habe.«
Faszination und Geldmangel machten den Maler zum Forscher
Der Maler Wesker wurde zum anatomischen Zeichner aus Faszination für den
menschlichen Körper - und aus Geldmangel. Zunächst machte er neben
seiner Arbeit als freier Künstler medizinische Grafiken für das Klinikum
Berlin-Steglitz, ab Ende der achtziger Jahre auch für medizinische Verlage.
Im Gegensatz zu vielen anderen Künstlern hatte er nie eine Abneigung gegen
Computer. Von einem befreundeten Informatiker bekam er immer die neuesten Modelle.
So war er gut gerüstet, als Anfang der neunziger Jahre die Zeit der Handzeichnungen
zu Ende ging und nur noch digitale Abbildungen akzeptiert wurden. »Die
Programme waren damals aber sehr schlecht, anatomische Zeichnungen zunächst
nicht möglich.« 1994 entdeckte er dann eine frühe Version von
Photoshop. Damit entwickelte er ein neues Konzept der anatomischen Zeichnung
und stellte es beim Thieme-Verlag vor, um Aufträge für einzelne Zeichnungen
zu bekommen. Dort war man so beeindruckt von seiner Arbeit, dass er den Auftrag
für einen neuen anatomischen Atlas bekam. Am Anfang verschätzte er
sich, was den Arbeitsaufwand anging. Schnell war klar: Ein zweiter Grafiker
wurde gebraucht. Einfach war die Suche nicht, der Anatomieatlas soll in einem
einheitlichen Stil gezeichnet sein. Schließlich fand sich mit dem Münchner
Markus Voll der kongeniale Partner für Wesker.
Den größten Teil der Arbeit hat das Team jetzt geschafft, ein Jahr
wird es wohl noch dauern, bis der dritte Band fertig gezeichnet ist. »Ich
muss mich beeilen mit dem Hals, damit ich noch am Kopf mitarbeiten kann«,
sagt Wesker.
Er ist sicher, dass in Zukunft Videoanimationen die aufwändigen Lehrbücher
ersetzen werden. »Ich glaube, es wird nie wieder ein neuer Anatomieatlas
gezeichnet werden - und zum letzten will ich möglichst viel beitragen.«
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