20 ist die Gotteszahl NZZ am Sonntag 15.08.2010
Vor 30 Jahren kam der Zauberwürfel Rubik's Cube auf den Markt, inzwischen ist er das meistverkaufte Spielzeug der Welt. Jetzt haben Mathematiker sein letztes Rätsel gelöst. Teil 1 Teil 2
Ein kleiner Bub reicht einem finster aussehenden Roboter einen verdrehten Zauberwürfel. Der hebt den Würfel vor sein Blechgesicht, wendet ihn hin und her - und beginnt dann, blitzschnell mit seinen Metallarmen an den Scharnieren zu drehen, bis nur noch eine Farbe pro Seite zu sehen ist. Das Internet ist voller solcher Videos von Menschen und Maschinen aus aller Welt, die einen vollständig verdrehten Zauberwürfel wieder in die Ausgangsposition bringen. Ein 18-jähriger Niederländer schafft es in 7 Sekunden, ein Roboter aus Lego in 10, ein Franzose mit verbundenen Augen in 23, und ein 3-jähriges Kind löst die Aufgabe in weniger als 2 Minuten.
Für Mathematiker aber behielt der Würfel ein grosses, bis heute ungelöstes Problem: das Rätsel der Gotteszahl. Darunter versteht man die kleinste Anzahl von Drehungen, die notwendig sind, um den Würfel aus jeder beliebigen Stellung wieder zu ordnen. Jetzt hat ein deutsch-amerikanisches Team diese Aufgabe gelöst: "Die Gotteszahl ist 20", sagt der Darmstädter Mathematiker Herbert Kociemba.
Der Zauberwürfel kam vor 30 Jahren in Mitteleuropa auf den Markt und fasziniert bis heute Menschen jeden Alters - Geschicklichkeitssportler, Mathematiker und Designer. Ausser im Deutschen heisst der Zauberwürfel in aller Welt Rubik's Cube, benannt nach seinem Erfinder. 1974 hat der ungarische Architekt und Bauingenieur Ernö Rubik ihn entwickelt - um den Studenten, die er unterrichtete, räumliches Denkvermögen beizubringen. 1975 liess Rubik ihn patentieren, aber erst 1979 bekam eine US-Firma von der kommunistischen Führung Ungarns eine Lizenz zur Herstellung.
1981, ein Jahr nach der Markteinführung, war die Euphorie auf dem Höhepunkt. 160 Millionen Stück wurden bis dahin verkauft. Die USA und Europa drehten am Würfel, Magazine wie der "Spiegel" und "Spektrum der Wissenschaft" veröffentlichten erste Anleitungen zur Lösung.
Heute liegen die Verkaufszahlen bei insgesamt 350 Millionen, damit ist der Zauberwürfel wohl das meistverkaufte Spielzeug aller Zeiten. In den letzten Jahren erlebte er sogar eine Renaissance. Es gibt T-Shirts, Lautsprecher und Taschen, die sein Muster tragen, der US-Songwriter Adam Green singt, dass er mit dem Würfel begraben werden möchte.
Das Zentrum der europäischen Zauberwürfel-Forschung ist ein Arbeitszimmer in Darmstadt. Herbert Kociemba, 56, Lehrer für Physik und Mathematik und einer derjenigen, die an dem jüngsten Forschungserfolg beteiligt waren, sitzt an seinem Schreibtisch. Links neben ihm steht seine Sammlung verschiedenster Zauberwürfel, daneben ein Plasticsack mit bunten Plättli - damit ersetzt er die Aufkleber bei seinen Würfeln, weil das besser aussieht und haltbarer ist. Wenn es um Rubik's Cube geht, merkt man, dass der für ihn mehr ist als nüchterne Mathematik. "Der Würfel knarrt so schön, wenn man ihn dreht", sagt er und lächelt. "Er wird nie in Vergessenheit geraten, weil er einfach genial ist."
Bei der Markteinführung hatte Herbert Kociemba gerade begonnen, als Lehrer zu arbeiten. "In den Noten-Konferenzen strickten die Frauen - und männliche Kollegen drehten am Zauberwürfel", erinnert er sich.
Von Anfang an weckte das Logik-Spielzeug den Ehrgeiz der Mathematikers. 1981 gewann er einen Wettbewerb des Magazins "Bild der Wissenschaft". Aufgabe war, zusätzlich zu den Farben aufgemalte Pfeile in die richtige Position zu bringen. Ein Bild im Heft zeigt Kociemba mit Vollbart, als Preis gab es eine Gesamtausgabe des Philosophen Erich Fromm. So war das damals.
Heute sitzt Kociemba vor seinem Computer, auf dem Bildschirm bunte Quadrate und graue Schaltflächen: die Benutzeroberfläche von "Cube Explorer", einem Computerprogramm, das Kociemba 1992 erfand und seither ständig weiterentwickelt. Mit der neusten Version kann der Benutzer per Webcam jede Würfel-Position einlesen und sich berechnen lassen, mit welchen Drehungen man ihn in die Ausgangsposition (alle Seiten des Würfels einfarbig) zurückbringen kann. "Im Durchschnitt schafft das Programm das mit 19 Zügen", sagt Kociemba.
Für die Gemeinde der Würfel-Fans ist das Programm essenziell; sie dankt dem Mathematiker frenetisch in Internetforen. Die meisten Speedcuber - diejenigen, die den Würfel in möglichst kurzer Zeit "lösen" wollen - berechnen sich mit Cube Explorer die optimale Drehfolge, und Roboter benutzen die Software unmittelbar, um die richtigen Züge zu machen. "Aber eigentlich hat mich das zuletzt nicht mehr interessiert", sagt Kociemba. Nein, es ging nur noch um das grosse Rätsel des Würfels in den letzten Jahren. Gemeinsam mit dem kalifornischen Informatiker Tom Rokicki und dem Mathematiker Morley Davidson von der Kent State University in Ohio wollten sie die Gotteszahl finden.
Die Bezeichnung Gotteszahl leitet sich von dem Begriff "Gottes-Algorithmus" ab, den englische Mathematiker für ideale Lösungen von mathematischen Problemen geprägt haben - ein allwissendes Wesen würde genau diesen optimalen Weg mit möglichst wenigen Schritten wählen, um zum Beispiel den Zauberwürfel zu lösen.
Der Zauberwürfel kann 43 Trillionen verschiedene Positionen einnehmen - mit dieser Zahl von Zauberwürfeln könnte man die Erdoberfläche 200-mal zupflastern. Für jede beliebige Stellung gibt es 18 Möglichkeiten für den ersten Zug - und dann jeweils wieder 18 für jeden folgenden. Wollte man die Gotteszahl so berechnen, dass man einfach für jede Würfelstellung die optimalen Züge berechnete, müssten 5 Millionen Computer 5 Millionen Jahre lang rechnen - unmöglich.
1992 gelang Kociemba der erste Durchbruch bei der Suche nach der Gotteszahl. Er schrieb einen Zwei-Phasen-Algorithmus. Der Trick dabei ist: Der Würfel wird aus einer beliebigen Anfangsstellung in maximal 12 Zügen in eine bestimmte Zwischenformation gebracht. Das schränkt die Anzahl der anschliessend noch vorhandenen Möglichkeiten auf 20 Milliarden ein, was Computer heute gut bewältigen können. In einer zweiten Phase wird er dann in die Zielposition (alle Seiten des Würfels einfarbig) gebracht. Dazu braucht es höchstens 18 Drehungen, in der Summe sind also maximal 30 notwendig.
In den letzten 18 Jahren konnten Forscher die Zahl schrittweise reduzieren, 2008 zeigte der kalifornische Informatiker Tomas Rokicki, dass die Zahl nicht grösser als 25 sein kann. Sein Trick: Er benutzte Kociembas Weg, unterteilte die Würfelpositionen dann aber in Gruppen, so dass er nicht jede einzeln berechnen musste. Gleichzeitig schrieb er im Internet, dass es ihm an Rechenleistung fehle, um sich der Gotteszahl weiter anzunähern. Daraufhin meldete sich ein Herr von Sony Pictures und bot an, dass Rokicki nachts die Computer benutzen könne, auf denen sonst Trickfilme entstehen. Wenige Monate später konnte Rokicki bereits zeigen, dass die Gotteszahl höchstens 22 sein kann. Zuletzt kam Google zu Hilfe und stellte seine riesige Rechnerkapazität zur Verfügung, damit das Problem gelöst werden konnte. Jetzt steht fest: Der Zauberwürfel kann, egal wie er verdreht ist, in 20 Zügen in die Zielposition gebracht werden.
Kociemba schaut in den Eingang seines E-Mail-Postfachs. Schon 7 Nachrichten heute von Rokicki. Die beiden arbeiten intensiv zusammen, jetzt stimmen sie Formulierungen für die Veröffentlichung ab. "Tom Rokicki war aber eindeutig der Motor des Vorhabens", beeilt Kociemba sich zu sagen. Er ist keiner, der im Mittelpunkt stehen will. "Für die Wissenschaft ist das jetzt ein Meilenstein", sagt er. Die Zahl, die es höchstens braucht, um einen Zauberwürfel in die richtige Position zu drehen? Kociemba lächelt. "Diese Erkenntnis wird kein Menschheitsproblem lösen - aber die Frage nach dem Nutzen stellt sich für mich nicht. Forschung ist einfach spannend", sagt Kociemba.
Ernö Rubik, der Erfinder des Zauberwürfels, interessiert sich übrigens nicht besonders für die kleinstmögliche Zahl der Züge, mit der man seinen Würfel lösen kann. "Der kürzeste Weg ist nicht unbedingt der schönste", sagte er einmal.