Die Reise zum Gefrierpunkt der Arktis
Die Zeit 05.08.04
Einst war die Arktis ein tropisches Meer. Wann sich über den Nordpol eine Eisdecke legte und warum, ist bisher unbekannt. Eine aufwändige Expedition soll das Rätsel lösen.

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Dreizehn Jahre hat Jan Backman auf diese Mission gewartet. Dreimal war er in der Arktis, hat sich mit einem Eisbrecher den Weg gebahnt in Richtung Nordpol, hat sich gegen Stürme und Packeis gestemmt, große Teile seiner Ausrüstung verloren - aber nicht die Hoffnung, seinen wissenschaftlichen Traum zu verwirklichen. Falten haben sich in das vom Wetter gegerbte Gesicht des Geologen der Stockholms Universitet gegraben, das Haar ist ergraut. Aber jetzt, mit 56 Jahren, steht Backman kurz vor seinem Ziel.
Am 8. August beginnt unter seiner Leitung in Tromsó, Norwegen, eine der aufwändigsten Forschungsreisen der letzten Jahre, die arktische Bohrexpedition ACEX (Arctic Coring Expedition). Drei Eisbrecher werden in See stechen in Richtung Lomonossow-Rücken, eines Gebirgszuges 1000 Meter unter dem Meeresspiegel, der sich von Grönland bis nach Sibirien erstreckt.
250 Kilometer südlich des Nordpols wollen Geologen zum ersten Mal mit einem hohlen Bohrer tief in den Meeresboden unter dem arktischen Eis vorstoßen. 25 Tage lang wollen sie Proben aus den dortigen Ablagerungen, dem Sediment, schneiden. Die sollen helfen, ein großes Rätsel zu lösen. Noch weiß niemand, wann und warum sich das tosende, einst tropische Nordmeer in eine weiße Eisfläche verwandelte. Das Nordmeer ist das einzige Gebiet auf der Erde, dessen Klimageschichte unbekannt ist. Doch alle Klimamodelle vergangener erdgeschichtlicher Epochen sind ohne genauere Kenntnisse über die Arktis spekulativ.
Wenn das Nordmeer sich erwärmt, wird es in Mitteleuropa kälter
Denn für unser heutiges Klima hat das Nordmeer zentrale Bedeutung. Es ist gleichsam die Pumpe, die Wärme nach Europa bringt. Kaltes und damit dichtes Wasser sinkt in der Arktis in die Tiefe. Dadurch wird wärmeres Wasser aus dem südlichen Atlantik angesaugt. Diese Strömung bestimmt das, verglichen mit anderen Regionen auf demselben Breitengrad, sehr milde Klima in Mitteleuropa.
Diskutiert wird im Moment, ob die zunehmende Erwärmung des Nordmeers diese Pumpe zum Stillstand bringen wird. Das Klima in Mitteleuropa würde dann kälter. Die ACEX-Mission soll neue Erkenntnisse über die natürlichen Temperaturschwankungen in der Arktis bringen und zeigen, welche Auswirkungen diese auf das Weltklima haben. Anhand der Daten, so hofft man, können auch die Folgen des Treibhauseffekts besser eingeschätzt werden.
Jan Backman ist der Pionier der arktischen Meeresgeologie, aber ACEX ist keine rein schwedische, sondern eine internationale Expedition. Finanziert wird das 10,5 Millionen Euro teure Vorhaben vom IODP (Integrated Ocean Drilling Program), einem Konsortium von 14 europäischen Staaten, den USA und Japan. Die arktische Bohrexpedition wird von den Europäern ausgerichtet, ein Viertel der Kosten trägt Deutschland. Forscher der Universität Bremen und des Alfred-Wegener-Instituts in Bremerhaven sind an Bord und an Land beteiligt.
Ü ber Satelliten werden die Forscher vor riesigen Eisschollen gewarnt
4000 Kilometer südlich der Arktis, im Bremer Europahafen, fernab von Eisschollen und Minusgraden, wird die Bohrexpedition im Herbst enden. Im Schuppen 3, einem roten Ziegelbau, gleich neben dem Orangendepot von Onkel Dittmeyer, steht eines von weltweit drei Lagern für Bohrkerne aus den Ozeanen. Ursula Röhl, Meeresgeologin an der Universität Bremen, erwartet hier die Fracht aus der Arktis: über 600 Kunststoffzylinder, 1,5 Meter lang, 7,5 Zentimeter im Durchmesser, gefüllt mit Sediment. In Bremen beginnt im November unter der Leitung von Röhl die wissenschaftliche Auswertung der Arktis-Expedition.
» Sicher bedauere ich, selbst nicht dabei zu sein«, sagt die 44-jährige Forscherin. » Aber als Koordinatorin muss ich die Expedition und die Untersuchungen der geförderten Proben vorbereiten - damit habe ich genug zu tun.« Röhl war auf zahlreichen Bohrexpeditionen, hat mehr als ein Jahr auf Forschungsschiffen verbracht. Jetzt ist sie die deutsche ACEX-Managerin, regelt den Transport der Bohrkerne nach Deutschland, deren Untersuchung, Archivierung und Lagerung.
Die arktische Bohrexpedition geht auf eine Entdeckung aus dem Jahr 1991 zurück. Damals macht sich eine deutsch-schwedische Expedition mit den Schiffen Polarstern und Oden auf den Weg zum Nordpol - auch Jan Backman ist dabei. Die Eisverhältnisse sind gut, zum ersten Mal erreichen Schiffe, die nicht von Atomreaktoren angetrieben werden, den nördlichsten Punkt der Erde.
Die Polarstern und die Oden kreuzen zweimal den Lomonossow-Rücken. Dabei holen die Forscher Proben vom Meeresboden, sie erstellen Karten des Untergrunds, indem sie Schallwellen in die Tiefe schicken und deren Reflexion messen. » Es war reines Glück, an dieser Stelle hatte niemand zuvor ein Profil aufgenommen«, sagt Jan Backman. Die Entdeckung: Auf dem Lomonossow-Rücken liegt eine 500 Meter dicke Kruste fein aufgeschichteter Sedimente, heruntergerieselt in Millionen von Jahren. » Dort am Meeresboden ruht ein Buch mit der Geschichte von 50 Millionen Jahren Arktis«, sagt Backman. » Seit 13 Jahren kreisen meine Gedanken darum, endlich darin zu lesen.«
An den Sedimenten aus circa 500 Meter Tiefe wird man, da sind sich die Geologen weitgehend einig, wohl sehen können, dass das Wasser in der Arktis vor 45 bis 55 Millionen Jahren viel wärmer war als heute. Darauf deuten bereits Fossilien von Krokodilen hin, die man im kanadischen Teil der Arktis gefunden hat. Wie sich das Nordmeer jedoch danach entwickelte, ist unklar.
Zur Entstehung der arktischen Eisdecke gibt es zwei Hypothesen. Die erste geht davon aus, dass die Vereisung vor 4 Millionen Jahren begann. Damals schloss sich die Meerenge von Panama - Atlantik und Pazifik sind seitdem getrennt. Dadurch veränderten sich die Meeresströmungen, das Nordmeer wurde von warmen Zuflüssen abgeschnitten, kühlte immer mehr ab.
Die zweite Hypothese datiert die Vereisung der Arktis sogar 10 Millionen Jahre zurück. Tektonische Kräfte hoben das Tibet-Plateau an. Die Flüsse Sibiriens flossen deshalb gen Norden, reduzierten den Salzgehalt im arktischen Meer und erleichterten so die Eisbildung.
Das Alter einzelner Sedimentschichten bestimmen Paläontologen anhand von Mikrofossilien. Die Wassertemperatur während einer erdgeschichtlichen Epoche lässt sich aufgrund eines einfachen physikalischen Zusammenhangs rekonstruieren: Warmes Wasser kann weniger Sauerstoff aufnehmen als kaltes.
Deshalb kommt in Schichten, die zu Zeiten mit hoher Temperatur entstanden sind, wenig Sauerstoff (gemessen anhand der Menge des radioaktiven Isotops O18) vor.
Diese Verfahren konnten an den Sedimenten aus der Tiefe des Lomonossow-Rückens bislang nicht angewendet werden. Niemand ist so weit vorgestoßen. Zwar fuhr Backman 1996 und 2002 mit dem Eisbrecher Oden in die Arktis und nahm dabei Sedimentproben, indem er beschwerte, scharfkantige Metallröhren im Wasser versenkte. Aber damit konnte er nur Kerne von bis zu zwölf Meter Länge ausstanzen. » Daran lässt sich die Geschichte der Arktis höchstens für die letzten 1,5 Millionen Jahre ablesen«, sagt er. Eis im Nordmeer gibt es schon viel länger, so viel weiß man durch die bisherigen Proben.
Um aufzuklären, wie es entstand, muss man also tiefer in den Meeresboden vordringen - und das heißt: bohren. Ein enormer Aufwand ist dafür nötig. So gibt es etwa kein Bohrschiff, das im Eis fahren kann. Deshalb wurde der schwedische Eisbrecher Vidar Viking eigens für ACEX umgebaut: Ein Loch von zwei Meter Durchmesser wurde in den Rumpf geschnitten, ein 34 Meter hoher Turm auf dem Deck aufgebaut.
Zwei weitere Eisbrecher begleiten die Vidar Viking. Voraus fährt die russische Sowjezkij Sojus, angetrieben von einem Atomreaktor mit 75 000 PS.
Sie macht den Weg frei, bricht selbst durch drei bis vier Meter dickes Eis.
Dahinter folgt die Oden, ein Eisbrecher, der mit stumpfem Bug die Eisschollen wegdrückt und so die Fahrrinne verbreitert. In ihrem Kielwasser fährt schließlich das eigentliche Bohrschiff.
Wenn der Lomonossow-Rücken erreicht ist, beginnt der schwierigste Teil der Expedition. Um bohren zu können, muss das Schiff ungefähr vier Tage vollkommen ruhig liegen, sonst bricht das Gestänge, das sich 1000 Meter unter dem Meeresspiegel in den Boden bohrt. Deshalb hat die Vidar Viking drei Stahlruder an Bug und Heck, die sie in stabiler Position halten sollen - ein schwieriges Vorhaben in der Arktis - Eisschollen, manche Hunderte Quadratmeter groß, drücken gegen die Planken. » Es ist sehr hart dort oben«, sagt Backman.
» Ich habe schon eine Menge Ausrüstung im Nordmeer verloren.« Er musste Gewichte und Metallröhren zurücklassen, weil das Eis sein Schiff wegdrückte.
Einmal tauchte eine Scholle unter dem Heck auf und schnitt mit scharfer Kante zwei Stahlseile durch, an denen das Schiff zwei Messgeräte hinter sich herzog. All das verschluckte die See. » Damals habe ich mir geschworen: Beim nächsten Mal werde ich besser ausgerüstet sein«, sagt Backman.
Bei der diesjährigen Expedition sind die Forscher denn auch gegen das drückende Eis gewappnet. Die begleitenden Eisbrecher werden um das Bohrschiff kreisen und so das Packeis fern halten. Auf besonders großen Schollen setzen Hubschrauber Sender ab, deren Position über Satellit ständig kontrolliert wird. » So können wir schnell erkennen, ob die Schollen auf uns zutreiben, und in dem Fall die Eisbrecher alarmieren«, sagt Backman. Die Expedition wurde mehrere Jahre lang vorbereitet. Backman ist zuversichtlich, was den großen Traum seiner wissenschaftlichen Karriere angeht: »Wenn nicht ein furchtbares Unwetter tobt, bekommen wir die Bohrkerne.«
Bis dahin wird es ein hartes Stück Arbeit geben. » Wissenschaftler und Bohrcrew haben 12-Stunden-Schichten an Bord«, sagt Ursula Röhl. Der Bohrkopf wird rund um die Uhr tiefer in den Meeresboden getrieben, unter der Sonne, die in diesen Tagen in der Arktis nicht untergeht. Röhl kennt das Leben auf Forschungsschiffen: »An Deck herrschen Hektik und unglaublicher Lärm - besonders, wenn das Bohrgestänge verlängert wird.« Damit der Bohrkopf weiter vorrücken kann, muss die Crew den Motor jeweils nach 4,5 Meter Tiefe anhalten, um ein neues Stahlrohr anzuschrauben. Gleichzeitig wird aus der Tiefe eine ebenso lange mit Sediment gefüllte Kunststoffhülse hochgezogen, der Bohrkern. » Am Anfang, wenn der Boden weich ist, dauert es nur 20 Minuten, bis die nächste Ladung an Deck kommt«, sagt Röhl. Je tiefer der Bohrer vordringt, desto fester wird das Sediment. Mehrere Stunden muss man dann manchmal warten, bis eine neue Probe nach oben kommt.
An Deck wird der Bohrkern in 1,5 Meter lange Stücke gesägt. Normalerweise schließen sich an die Bergung eingehende Untersuchungen an, nicht aber bei der Arktis-Expedition. » Es werden nur die notwendigsten Tests gemacht, weil auf dem Eisbrecher kein Platz für Labors ist«, erklärt Röhl. Untersucht wird vor allem, ob entzündliches Gas im Sediment ist. Dann nämlich müsste die Bohrung wegen der Explosionsgefahr abgebrochen werden. Außerdem werden die Temperatur und der pH-Wert im Porenwasser bestimmt, und eine grobe Altersbestimmung wird vorgenommen. Danach kommen die Bohrkerne, säuberlich beschriftet, in einen Container.
In Schuppen 3 lagern 75 Kilometer Proben
Erst in Bremen werden sie wieder ausgepackt, der Länge nach in zwei Hälften geteilt (eine zur Probenentnahme, die andere fürs Archiv) und dann eingelagert. In Schuppen 3, zwischen Baumwollballen und blauen Chemikalienfässern, führt eine Stahltür ins Bohrkerndepot. Vier Meter hoch, bis unter die Decke, reichen dort die Metallregale, die schmale rote und schwarze Plastikschubladen tragen. Baumarkt-Optik. Bei vier Grad Celsius, der Temperatur, die auch am Meeresboden herrscht, liegen hier 75 Kilometer Sedimentproben, die vor der Küste von Venezuela oder Florida geborgen wurden, im Mittelmeer oder in der Karibik.
Sie sehen nicht besonders spektakulär aus, die Bohrkerne, die Expeditionen aus den entlegensten Regionen der Weltmeere holen. Der Länge nach halbierte Zylinder, eingebettet in eine Plastikschale. Der Inhalt sieht sehr unterschiedlich aus: mal wie grün-braune Erde, mal wie weißes Kalkgestein.
Interessant sind Bohrkerne vor allem dann, wenn direkt übereinander liegende Schichten sich deutlich unterscheiden. » Dann müssen sich die Bedingungen im Meer innerhalb kurzer Zeit radikal verändert haben«, sagt Ursula Röhl. Im Bohrkernlager in Bremen gibt es zum Beispiel eine Probe aus dem Golf von Mexiko, die vom Einschlag des riesigen Meteoriten kündet, der nach Meinung vieler Forscher das Aussterben der Dinosaurier verursacht hat. In einer tonartigen Schicht erscheint ein feines rötliches Band. » Das sind Reste des Himmelskörpers, der vor 65 Millionen Jahren in Mexiko eingeschlagen ist.« Die Lage darüber ist gelb-grün gefärbt, durch den Staub, der beim Aufprall des Meteoriten aufgewirbelt wurde.
Auch von den Sedimentproben aus der Arktis erwarten die Forscher spektakuläre Ergebnisse. Wenn dem Abenteuer bald die Analyse folgt, wird Ursula Röhl Jan Backman und all die anderen beteiligten Geologen ins Bremer Bohrkernlager einladen - zu einer »Party«, wie sie es nennt, einer Party, bei der nicht gefeiert, sondern nur gearbeitet wird. Jan Backman wird sich trotzdem freuen.

 

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