Eine grüne Insel für Schimpansen
NZZ am Sonntag 21.09.08
In 20 Jahren wird es keine Schimpansen mehr in freier Wildbahn geben, schätzen Biologen – weil die Wälder, in denen sie leben mehr und mehr zerstört werden. Was können Asyle für wenige Tiere da bewirken? Eine ganze Menge, zeigt ein Besuch in Uganda.

Es dämmert über dem Victoriasee, als die ersten Menschen in ihrem Gehege wach werden. Dunstschleier liegen über dem Wasser, Gerald Muyingo stapft mit zwei Eimern voller Bananen in den Händen durch die feuchte Wiese. Er ist einer von 20 Tierpflegern, die hier auf Ngamba Island, einer Insel rund 23 Kilometer entfernt vom ugandischen Festland, leben - eingepfercht auf zweihundert mal dreihundert Metern. Der Rest der Insel, ein etwa 40 Fußballfelder großer Regenwald, gehört den Schimpansen. Es ist die große Freiheit für 44 Tiere, die einst in der Wildnis gekidnappt und dann in Gefangenschaft gehalten wurden. Das „Ngamba Island Chimpanzee Sanctuary“ wurde vor elf Jahren von der Stiftung der legendären Primaten-Forscherin Jane Goodall als Asyl für verwaiste Schimpansen gegründet.

Pan troglodytes, so die wissenschaftliche Bezeichnung für den Schimpansen, kommt im mittleren Afrika rund um den Äquator in 21 Ländern vor, von Gabun im Westen bis Tansania im Osten. In einigen westafrikanischen Staaten wie Burkina Faso, Gambia und Benin ist er bereits ausgerottet - und überall bedroht. Von einst zwei Millionen Tieren, sind heute noch 100 000 übrig, in Uganda leben noch weniger als 5000 von einst 50 000 Schimpansen. Die Gründe sind überall in Afrika ähnlich. Seit 1960 hat sich die Bevölkerung südlich der Sahara verdreifacht. Die Menschen dringen immer weiter in den Lebensraum der Schimpansen vor. Regenwald wird gerodet, um Platz für die Landwirtschaft zu schaffen, um Holz zum Kochen und Bauen zu gewinnen. Schimpansen werden getötet, weil sie sich auf den Feldern der Bauern bedienen, sie werden gejagt, um das Fleisch der erwachsenen Tiere als „Bushmeat“ und die Babys als Haustiere zu verkaufen. Es gibt die Wissenschaftler, die prophezeien, dass es in 20 Jahren in der Wildnis keine Schimpansen mehr geben wird. Beim UN World Forestry Congress (WFC), der alle sechs Jahre stattfindenden UN-Konferenz für den Schutz der Weltwälder, die am 18. Oktober in Buenos Aires beginnt, wird es auch um den Schutz unsere nächsten Verwandten gehen. Weil die Zerstörung der Wälder gleichbedeutend ist mit der Ausrottung unserer nächsten Verwandten – und weil Jane Goodall sprechen wird, die ihr Leben dem Schutz der Schimpansen gewidmet hat. Über 100 Vorträge hält sie im Jahr, um die Menschen zu sensibilisieren für die Not der Tiere, mit denen sie Jahre im Gombe National Park in Tansania zusammen lebte. Immer wieder erzählt sie dabei auch von ihrem Projekt auf eben jener Insel im Victoriasee und was es beitragen kann zum Schutz der Wälder und der Schimpansen.

Noch ist Vogelgezwitscher zu hören an diesem Morgen auf Ngamba Island, aber gleich werden die Schimpansen es übertönen. Sie liegen nebenan im Käfig, in ihren Hängematten. Jeden Abend kommen sie freiwillig aus dem dichten Regenwald, um zu fressen und zu schlafen. Die Insel könnte nur zwei Schimpansen ernähren – und weil die Tiere sich in der Wildnis jeden Abend ein Nest aus Blättern und Zweigen bauen, wäre der Wald bald zerstört, wenn sie draußen schlafen würden. Der erste Schimpanse schreit, es hört sich fast an, wie das Bellen eines Hundes. Wüstes Kreischen aus mindestens 20 Kehlen ist die Antwort, jetzt sind alle wach auf der Insel. Gerald tritt vor den Käfig, es ist Zeit für die erste von vier Fütterungen täglich. In einer Ecke sitzt ein Tier, das apathisch ins Leere blickt, mit dem Kopf wackelt, ihn dann immer schneller vor und zurück schleudert. Es schreit, klagend, jämmerlich klingt das. Dann umgreift es seine Beine, hebt sie in Richtung Brust, schüttelt sie ruckartig.

In solchen Momenten merkt man, dass das Schimpansen-Weibchen Ikuru ein Trauma hat. Es stammt aus dem Kongo, wo zwischen 1996 und 2004 Bürgerkrieg herrschte – und es muss als Baby mit seiner Mutter zwischen die Fronten geraten sein. Als ein Soldat es fand, klammerte es sich an den kalten Körper seiner erschossenen Mutter. Niemand weiß, wie lange es so da lag. Der Soldat - er gehörte zur ugandischen Armee, die sich in den Konflikt eingemischt hatte - nahm Ikuru mit. Doch er band sie mit einem Strick an einem Pfahl fest und fütterte sie kaum. Als die ugandischen Behörden, das Schimpansen-Weibchen nach einem Jahr konfiszierten und nach Ngamba brachten, war es unterernährt, hatte kaum Haare, aber einen aufgeblähten Bauch, Zeichen einer Wurmerkrankung. Bis heute kann Ikuru nur weiche Nahrung essen, denn sie hat damals alle Zähne verloren. Auf Ngamba besserte sich ihr körperlicher Zustand rasch. Doch die Art, wie sie ihre Mutter verlor, scheint sie bis heute nicht ganz verkraftet zu haben. „Ikuru“, ruft Tierpfleger Gerald Muyingo, zweimal, dreimal. Sie hört auf, sich zu schütteln, trottet zum Gitter, streckt die Hand aus. Muyingo gibt ihr eine Banane, tätschelt ihr den Arm.

In Uganda ist es verboten, Schimpansen als Haustiere zu halten. Seit Ende der 90er Jahre konfiszieren die Behörden immer mehr Tiere – und bringen sie nach Ngamba.
Bevor es das Reservat gab, lebten die beschlagnahmten Schimpansen in beengten Zoo-Käfigen. Mitarbeiter des Jane Goodall Institute (JGI) in Uganda suchten Jahre lang nach einem Ort, an dem die Tiere freier leben können sollten, bevorzugt nach einer Insel. Schimpansen können nicht schwimmen, Wasser ist deshalb eine sicherere und natürliche Barriere gegen Ausbrüche – und Einbrüchen von Bauern, die ihre Felder erweitern wollen oder Wilderern. Als eines Tages eine Insel im Victoriasee zum Verkauf stand, machte das JGI einen Spendenaufruf und brachte schließlich den Kaufpreis auf. Gerald Muyingo übernahm die Leitung des Projekts.

11 Jahre sind vergangen seitdem, Jahre in denen Ngamba Island zum einzigen vollständig von Einheimischen gemanagten Schimpansen-Asyl in Afrika wurde, Jahre, in denen die Tiere für viel Aufregung im Leben von Gerald Muyingo gesorgt haben. Einmal legten Fischer heimlich mit ihrem Boot an der Insel an – sie hatten sich von den Warnungen der Tierpfleger nicht abschrecken lassen. Ein Männchen sprang ins Boot, stieß die Fischer ins Wasser und paddelte auf den Victoriasee hinaus. Gerald musste es mit dem Motorboot wieder einfangen. Wenn er von den Schimpansen redet, hört er sich an, wie ein Vater, der über seine schelmischen Kinder spricht – auch, als er erzählt wie ein Weibchen die Tierpfleger ausgetrickst hat. Eigentlich tragen alle weiblichen Schimpansen ein Hormonimplantat im Arm, das verhindert, dass sie schwanger werden. Das Weibchen entfernte es sich, ohne dass die Tierpfleger das merkten – und brachte eines Tages völlig überraschend ein Baby mit aus dem Wald: „Kyewuunyo“, die Überraschung.

Man verhindert die Fortpflanzung der Schimpansen auf Ngamba Island normalerweise, weil die Aufnahmekapazität der Insel fast erreicht ist. „Das hier ist ein Notquartier“, sagt Muyingo. „Wir wollen hier keine Affen produzieren.“ Man kann die Tiere nicht in die Wildnis entlassen. Erstens gibt es keine unbewohnten Habitate mehr. Außerdem könnte es sein, dass die an Fütterungen gewöhnten Affen in der Natur nicht mehr bestehen können. „Jeder Schimpanse zählt für uns“, sagt Muyingo. „Die Tiere hier haben viel durchgemacht, wir wollen ihnen hier ein gutes Leben in einer natürlichen Umgebung ermöglichen.“

Manchmal wird Jane Goodall gefragt: 20 Tierpfleger, die sich auf einer abgelegenen Insel um 44 Affen kümmern – ohne, dass es der Arterhaltung dient? Lohnt sich der ganze Aufwand, damit wenige Schimpansen ein geruhsames Leben bis ins hohe Alter führen können?

Am nächsten Morgen, Aufbruch mit drei Tierpflegern in Richtung Hoima, 250 Kilometer entfernt von Ngamba, im Westen von Uganda. Hier gibt es noch wenige Schimpansengruppen in der Wildnis, aber es wird immer mehr Wald gerodet, es gibt Zusammenstöße von Schimpansen und Menschen, die für die Affen oft tödlich enden. Die Ngamba-Mitarbeiter machen sich auf den Weg, um aufzuklären – damit die Menschenaffen auch in der Wildnis überleben. Eine Stunde fahren sie mit dem Boot über den Victoriasee, dann geht es mit dem Auto weiter über zunehmend schlechte Straßen. Der Geländewagen hoppelt über eine rote Sandpiste mit Schlaglöchern. Dann erreichen sie eine Schule: Eigentlich sollten die Tierpfleger einen Vortrag für eine kleine Gruppe von 40 älteren Schülern halten. Doch unter einem Wellblechdach warten fünfhundert Mädchen und Jungen aller Altersstufen in ihren Schuluniformen. Der Besuch der Tierpfleger ist eine Attraktion. Diese laden erst einmal einen Diesel-Generator aus dem Auto - es gibt keinen Strom in der Schule. Eine halbe Stunde später flimmert ein Film an der schmutzigen Wand. Kein großes Kino, aber die Schüler blicken gebannt nach vorne, wo eine Stimme aus dem Off erklärt, dass Schimpansen dem Menschen sehr ähnlich sind – und man sie deshalb weder essen, im Wald stören noch als Haustier halten sollte. Die Tierpfleger imitieren Gesten und Affenlaute – die Kinder lachen. Nach Film und Vortrag, das ergibt eine Umfrage, sind die Jungen und Mädchen, die zum größten Teil noch nie einen Schimpansen gesehen haben, begeistert von den Tieren.

Diese Aufklärungsprojekte werden, genau wie der Betrieb von Ngamba-Island, finanziert
durch Geld, das Touristen für Besuche bezahlen und durch Spenden. Es ist vielleicht der wichtigste Verdienst von Affen-Asylen wie Ngamba Island, dass sie Menschen, gerade in Afrika, wo sehr viele keinen Zugang zu Bildung haben, lehren: Schimpansen sind Lebewesen, die uns sehr ähnlich sind, sie sind jeden Aufwand wert geschützt zu werden.
Die Sonne geht unter über dem Victoriasee, als die Schimpansen zur Abendfütterung in den Käfig rennen. Bewohner einer Nachbarinsel sind gekommen, um zuzuschauen. Fünf Männer, drei Frauen, zwei Kinder, ängstlich, aber sichtlich fasziniert, stehen sie zehn Meter entfernt vom Käfig und schauen zu, wie die Schimpansen wild kreischend von Hängematte zu Hängematte schwingen. Die Ngamba-Betreiber kaufen Lebensmittel für Mensch und Tier auf den Nachbarinseln, auf einer wurde mit Geldern aus dem Projekt eine Schule gebaut. Die Souvenirs, die auf Ngamba angeboten werden, haben Menschen von Nachbarinseln gefertigt. Das Geld, was durch Spenden und Touristen nach Ngamba fließt, kommt so auch den Anwohnern zu Gute.
Gerald hält Rambo, einem jungen Schimpansen, eine blaue Tasse hin. Der Affe streckt die Hände durchs Gitter, greift zu und setzt die Lippen an den Rand des Gefäßes. Es trinkt mit großen Schlücken, Milch rinnt auf sein Fell, ein bisschen ungeschickt wirkt das, wie bei einem Kleinkind – und genauso niedlich. Die Besucher von der Nachbarinsel sind ein Stück näher an den Käfig gerückt, zwei Frauen lächeln verzückt.
Jane Goodall hat gemeinsam mit ihrem Kollegen Gail Hudson in diesem Herbst das Buch „Hope for Animals and Their World“ herausgegeben, in dem Initiativen vorgestellt werden, mit denen Aktivisten Säugetiere vor dem Aussterben retten wollen. In Ihrem Vorwort schreibt sie: „Das Thema der Aufzucht von bedrohten Tieren in Gefangenschaft ist kontrovers. Es gibt viele Einwände von denen, die meinen, Last-Minute-Lösungen werden nicht helfen und seien Zeit und vor allem Geldverschwendung. Zum Glück haben die Biologen, die Arten gerettet haben nicht auf diese Skeptiker gehört.“
Die Schimpansen und ihre Lebensraum, so viel steht fest, sind längst noch nicht gerettet. Aber wenn Jane Goodall nach dem Sinn von Tierasylen wie Ngamba gefragt wird, erzählt sie manchmal folgende Episode. Vor vier Jahren wollte die ugandische Regierung fünf Schimpansen von Ngamba Island verschenken, als freundschaftliche Geste für einen Zoo in China. Die Anwohner flehten den ugandischen Präsidenten an: „Bitte geben Sie die Schimpansen nicht weg, sie gehören hierher.“ Die Tiere sind daraufhin auf Ngamba geblieben.

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