Rubik-Cube
Lawinenglühen
DIE ZEIT 05.01.2012
Forscher fiebern jahrelang einem Versuch auf dem weltweit größten Testfeld für Lawinen entgegen – und erleben eine Überraschung.

Beim Essen am Abend, bevor die große Lawine gesprengt werden soll, steht François Dufour auf und hält ein Funkgerät in die Höhe: "Wir kommunizieren morgen früh über Kanal 1 – den Kanal K benutzen wir nur, wenn eine Katastrophe passiert." Es ist 20 Uhr in einem Hostal auf 1.500 Meter Höhe in Anzère, Wallis. Durchs Fenster sieht man den Schnee vom Himmel rieseln, er bedeckt die Straße, türmt sich an deren Seiten anderthalb Meter auf. Drinnen sitzen 25 Wissenschaftler, Schweizer, Deutsche, Österreicher, Norweger, die beiden Letzten sind eben aus England eingetroffen.

Seit gestern gibt es die Gewissheit, dass der weltweit größte Freilandversuch in der Lawinenforschung stattfinden soll. Denn erst da war klar, dass die beiden Vorbedingungen erfüllt sein werden: mehr als 80 Zentimeter Neuschnee innerhalb von drei Tagen sowohl am Berg als auch im Tal – und zumindest eine Chance, dass kurz darauf die dichte Wolkendecke aufreißen wird, damit die Lawine überhaupt beobachtet werden kann. "Treffpunkt morgen früh hier – um sieben Uhr", sagt Dufour. Er ist Koordinator des Versuchs vom Schnee- und Lawinenforschungsinstitut (SLF) in Davos, das als weltweit führend auf diesem Gebiet gilt.

In den vergangenen vier Jahren hat der Lawinenversuch nicht funktioniert, deshalb herrscht gespannte Vorfreude bei den Wissenschaftlern. "Ich werde versuchen, etwas zu schlafen – es wird ein langer Tag morgen", sagt Perry Bartelt, Leiter der Forschungsgruppe Lawinendynamik am SLF. Entscheidend für das Experiment werden das Wetter sein und die Kommandos von François Dufour, der für die Sicherheit zuständig ist. Der 60-jährige Westschweizer lächelt meist charmant, wenn er mit französischem Akzent Anweisungen gibt und über Neuigkeiten informiert: "Ich bekomme laufend Wetterdaten rein und gebe dann kurzfristig Bescheid, wann wir aufsteigen. Gute Nacht."

Lawinen sind im Gebirge eine große Gefahr, sie bestimmen, wo Siedlungen gebaut werden und Touristen sich aufhalten können. Jährlich sterben im Alpengebiet durchschnittlich hundert Menschen in Lawinen. In der Schweiz bündelt das SLF Lawinenwarnung und -forschung. Jeden Tag erstellt es Prognosen über die aktuelle Gefahr für die verschiedenen Regionen der Schweiz.

Doch selbst Lawinenforscher haben oft noch keine große Lawine in der Natur gesehen; zu selten sind sie und zu schwierig die Prognosen, wann genau ihre gewaltigen Schneemassen gen Tal donnern. Um das zu ändern und den Wissenschaftlern genaue Analysen über große Lawinen zu ermöglichen, gibt es seit 1998 das Versuchsfeld Vallée de la Sionne oberhalb von Anzère: ein Grat auf 2.700 Meter Höhe, darunter ein steiler Hang, wo das Geschehen an vier Stellen mit Messgeräten analysiert werden kann. Seit Jahrhunderten rollen hier mächtige Lawinen zu Tal. Sie haben breite Schneisen in den Wald geschlagen.

Am nächsten Morgen herrschen draußen Nebel und weiterhin Schneefall. Im Hostal wirbt ein Poster für eine Veranstaltung mit Live-Musik am gleichen Ort, die "Relax Bar" – aber langsam wird es hier hektisch. Die Wetterprognose um 10 Uhr hat ergeben: Mittags wahrscheinlich Aufhellungen. Alle, die am Versuch teilnehmen, müssen an François Dufour vorbei – er kontrolliert die Sender, die jeder Wissenschaftler eng am Körper führen muss, um nach einer eventuellen Verschüttung geortet werden zu können. "Ob ich noch ein zusätzliches Netzkabel für den Laptop mitnehmen soll, falls meines aus irgendeinem Grund nicht funktioniert?", murmelt ein Forscher. Man will auf jede Eventualität gefasst sein, denn die Chance, eine Lawine hier im Vallée de la Sionne zu untersuchen, kommt meist nur einmal im Jahr – und oft gar nicht.

Kurze Zeit später geht es los: Eine Gruppe von Forschern fährt zum Hubschrauberlandeplatz. Sie wird mit dem Helikopter zu einem Bunker geflogen, der am Ende des Lawinenhangs steht. Die Wissenschaftler steuern von hier die gesamte Messtechnik des Versuchs und bedienen Radargeräte, die die Lawine von vorn scannen sollen. Eine zweite Gruppe legt Schneeschuhe an, Ziel ist nach einem einstündigen Aufstieg ein kleines Plateau, von dem aus man die Lawine sehen kann.

François Dufour steckt abwechselnd die Stöcke in den Schnee, schreitet kraftvoll voran. Er führt die Karawane zwischen tief verschneiten Fichten bergan. Ganz an ihrem Ende läuft Perry Bartelt, ohne Stöcke, mit einem Kunststoffkoffer in der Hand. Darin steckt eine Wärmebildkamera. "Mit ihren Bildern wollen wir unser Computermodell für Lawinen verbessern", sagt Bartelt. In seiner Forschergruppe wurde RAMMS (Rapid Mass Movements) entwickelt, eine Software, die eine Prognose darüber erstellt, wie weit eine Lawine ins Tal rauscht, welchen Weg sie dabei nimmt, mit welcher Kraft sie gegen Hindernisse prallt – und ob bestehende Schutzmaßnahmen sie aufhalten können.

Im Himalaya und in den Anden wird damit die Sicherheit von Passstraßen überprüft. In Österreich und der Schweiz ermitteln die Gemeinden damit, wo Wohnhäuser und Ferienanlagen errichtet werden können und wo Schutzdämme und Galerien über Straßen gebaut werden müssen. Das Programm wird stetig weiterentwickelt.

Je mehr Daten einfließen, umso besser – und am besten, weil am umfassendsten, sind die Messdaten aus dem Großversuch im Vallée de la Sionne. "Wir wollen besonders unsere Vorhersagen für Nassschneelawinen verbessern", sagt Bartelt. "In Südamerika, im Himalaya und im Westen der USA sind sie eine sehr häufige Lawinenart; und durch die Klimaerwärmung nimmt ihre Zahl in Zukunft wohl auch in den Alpen zu."

Nassschneelawinen bestehen vorwiegend aus Schnee nahe dem Gefrierpunkt. Sie kommen in den Alpen bislang vor allem im Frühjahr vor, wenn die Temperatur ansteigt. Sie sind langsamer als Trockenschneelawinen, können aber eine genauso große Kraft entwickeln und einen Wald dem Erdboden gleich machen. Heute will Bartelt testen, ob sich mit einer Wärmebildkamera erfassen lässt, welche Art von Lawine abgeht und ob sie auf ihrem Weg talwärts wärmeren Schnee aus tieferen Lagen mitnimmt.

Außerdem will er überprüfen, ob sich eine theoretische Überlegung bestätigt: Man weiß schon lange, dass nur 15 Prozent der potenziellen Energie, die Schnee in einer Hanglage still gespeichert hat, dann beim Lawinenabgang in Bewegungsenergie umgesetzt werden. Der große Rest muss im Hang verloren gehen. Dementsprechend würde Reibungsenergie freigesetzt – also sollte der Schnee innerhalb der Lawine wärmer werden.

Inzwischen ist die Forschergruppe auf 1.800 Metern angekommen. Dicht hängt der Nebel zwischen den Fichten, die wie eingegipst wirken vom neuen Schnee. Auf einer Felsnase hinter den Bäumen treten die Wissenschaftler fünf Quadratmeter Schnee platt, das wird ihr Beobachtungsposten. Gegenüber liegt der Lawinenhang, doch eine Wolke versperrt die Sicht. Trotzdem bauen die Forscher ihre Messinstrumente auf, auch die Wärmebildkamera.

François Dufour drückt den Sprechknopf am Funkgerät: "Besatzung im Bunker auf Position?" fragt er. "Ja", krächzt es aus dem Lautsprecher, die Messtechnik läuft, die Radargeräte sind bereit für die Lawine. "François Dufour an Wächter auf Posten eins – verdächtige Vorkommnisse?" Das Gebiet, in dem die Lawine niedergehen soll, ist weiträumig abgesperrt, an den Zugängen stehen Mitarbeiter des SLF, die Dufour jetzt nacheinander anfunkt. "Wir haben hier eine Schneeschuhspur", kommt die Antwort aus dem Funkgerät. "Den Typen müssen wir rausholen, bevor es losgeht – verfolgen bitte!" Dufour schüttelt den Kopf. Wird der gesamte Versuch an einem Wanderer scheitern?

Ein paar Minuten später schaut er gen Himmel und lächelt – die Sonne bricht durch weiße Schlieren. Hinter ihnen schimmert das Blau des Himmels. Plötzlich liegt der Lawinenhang offen vor den Wissenschaftlern. An einigen Stellen sind schon Lawinen spontan abgegangen. Die Forscher justieren ihre Messgeräte. "Habt ihr den Wanderer?", fragt Dufour ins Funkgerät. "Wir haben am Ende der Spur niemanden gefunden." – "Dann ist er vielleicht in seiner Spur zurückgegangen?" – "Wir müssen leider sagen, dass die Spur, nicht so aussieht." – "Mist. Bitte weitersuchen. Ende."

Das kleine Plateau mit den Wissenschaftlern liegt in der Sonne, im Tal steht der Nebel. Dumpf hört man von unten das Schlagen der Rotorblätter – der Hubschrauber steigt auf, um das Gebiet abzusuchen. Da krächzt es aus dem Funkgerät. "Frische Schneeschuhspur, wir nehmen die Verfolgung auf." Zwei Minuten später von Posten eins: "Wir haben ihn, er hat auch die andere Spur gemacht." François Dufour atmet tief durch. "Okay, sagt ihm, dass er bitte nach Hause gehen soll, weil wir hier eine Riesenlawine sprengen werden. An alle: Bitte fertig machen, wir werden gleich schießen!"

Der rote Helikopter taucht aus dem Nebelmeer auf, schraubt sich hoch bis zum Grat. "Weiter rechts, noch ein Stück, ja, genau hier!" Dufour dirigiert den Hubschrauber per Funk. Der lässt eine Sprengladung fallen, dann fliegt der Pilot die Maschine zurück in Richtung Tal. "An alle: Noch zwei Minuten, bis wir schießen." Eine Minute, 15 Sekunden – "Sprengung!". Ein Feuerball ist zu sehen, ein Lichtschwert zuckt in die Wolken, fünf Sekunden später folgt der zugehörige Knall. Am steilsten Stück des Grats kommt der Schnee ins Rutschen, rollt gen Tal, darüber stiebt er in die Höhe. Unter der Staubwolke stürzt eine weiße Wand vorwärts, lautlos. Dann ein flacherer Hang, die Lawine wird langsamer, langsamer – und bleibt stehen. Schweigen bei den Wissenschaftlern.

"Die ist abgesoffen", sagt Perry Bartelt. "Eigentlich wollten wir etwas anderes sehen, aber auch das ist sehr interessant." Für das Computermodell RAMMS sei es wichtig, vorherzusagen, wann eine Lawine sterbe – und wann sie wirklich gefährlich werde. "Hier war die Neuschneeauflage so locker, dass sich kein Bruch darin ausbreiten konnte – so wie sich geriebene Schokolade nicht brechen lässt im Gegensatz zu einer Tafel." Letztlich sei damit zu wenig Masse in Schwung gekommen, um eine Riesenlawine auszulösen. "Das war nicht vorherzusehen – so ist die Natur", sagt François Dufour und lächelt.

Bartelt betrachtet die Bilder, die die Wärmebildkameras gemacht haben. Tatsächlich ist zu sehen, dass der Schnee selbst innerhalb dieser kleinen Lawine wärmer geworden ist. Trotzdem wirkt Bartelt enttäuscht, dass die Lawine nicht größer wurde – bis er während des Abstiegs stehen bleibt und auf die Bergkette gegenüber blickt. Sie leuchtet orange in der Abendsonne. Alpenglühen. "Wie schön!", seufzt er. "Wir haben heute alles richtig gemacht."

 

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