Skifahren wie 1910 - Foto: Cristiana Benz
© Cristiana Benz


Skifahren wie 1910
Mit Knickerbockern auf die Piste

Spiegel Online 21.01.15

Die Schweiz feiert 150 Jahre Wintertourismus - doch wie war Skifahren eigentlich damals? Frederik Jötten versucht in Davos, in Lederstiefeln und Holzskiern von 1910 den Berg hinunterzukommen.
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Ich habe Angst vor dem Schlepplift, so wie früher, als ich ein kleiner Junge war. Heute mache ich freiwillig den größten Rückschritt auf Skiern, den man sich vorstellen kann. Ich will wissen, wie sich Skifahren vor 150 Jahren angefühlt hat. So lange gibt es schon Wintertourismus in der Schweiz.

Meine Füße stecken in Lederschuhen, die an Bergstiefel erinnern. Anders als moderne Kunststoff-Skischuhe geben sie kaum Halt. Die Stiefel sind festgeschnallt auf einem Paar Holzski von 1910, über zwei Meter lang, keine Stahlkanten, anders als alle Ski, die ich und 99 Prozent aller Skifahrer jemals gefahren sind. In jeder Hand halte ich einen Knüppel. Sie haben einen Durchmesser wie ein Zwei-Euro-Stück, sind knorrig gewachsen und je ungefähr ein Kilogramm schwer - Skistöcke, die den Namen verdienen.

Es ist ein Wintertag in Davos, an dem die Sonne die Wolken nur selten durchbricht. Obwohl die Temperatur nur knapp unter dem Gefrierpunkt liegt, ist mir kalt. Das liegt an dem Schurwollsakko und den Knickerbockerhosen, die ich trage, authentische Ski-Kleidung aus dem 19. Jahrhundert.

Ich schaue ein wenig neidisch zu meinem Begleiter Andrea Guler, 62, pensionierter Fluglotse mit Schnurbart und Vizepräsident des Wintersportmuseums Davos. Er trägt Jacke und Hose aus dickem Lodenstoff. Warum darf ich die nicht haben? "Du bist der Gast und trägst Kleidung wie die englischen Touristen einst. Ich habe die Tracht an, die die Einheimischen früher trugen", sagt Guler. Tja, da gibt es wohl keine Chance. Vermutlich möchte er nicht, dass ich mit meinem schlechten Fahrstil die Schweizer Ahnen beleidige.

Eigentlich ist der Bolgen ein Anfängerhang. Aber für mich geht es schon im Bügellift ums nackte Überleben, ohne Kanten und ohne Halt. Erstaunlicherweise falle ich nicht raus - aber dann kommt der Ausstieg. Ich schwanke, rudere mit den Armen und bin froh, dass es hier am Ausstieg so flach ist, dass ich gleich zum Stehen komme.

Der Hang erscheint mir extrem steil.

Guler fährt vor, macht einen Schwung - und sieht dabei sehr elegant aus. Ich hinterher.

Ich versuche, die nicht vorhandenen Kanten in den Hang zu drücken - und rutsche einfach seitlich hinunter. An einer flacheren Stelle komme ich zum Stehen, keuchend vor Panik. Guler hält neben mir. "Die wichtigste Technik mit diesen Skiern ist die Stemm-Christiania", sagt er. Er macht es mir vor: Anfahrt parallel zum Hang, dann den Bergski wie zum Pflugbogen anstellen, das Gewicht auf diesen Ski verlagern und drehen.

Ich versuche es. Eine Art Pflugbogen gelingt mir, allerdings rutsche ich wieder seitlich ab, und ohne Halt in den Schuhen knicken meine Knöchel nach innen ein, was sich nicht sehr angenehm anfühlt. Jetzt bin ich wieder seitlich zum Hang, nehme Tempo auf und fahre auf den gegenüberliegenden Rand der Piste zu. "Und rum!", ruft Guler.

Es geht nicht, weil ich wie ein nasser Sack auf X-Beinen in Rückenlage fahre, nein rase! Vor mir ein Zaun! Ich drücke die Spitzen meiner Skistöcke in den Schnee: Handbremse. Immer noch zu schnell - ich lasse mich auf den Hintern plumpsen. Endlich bleibe ich stehen oder vielmehr liegen.

Guler hält neben mir und spricht mir Mut zu: "Die Ski sind für solches Terrain nicht gemacht. Früher gab es natürlich noch nicht so glatt präparierte Pisten, da ist man nur Tiefschnee gefahren."

Nach dem Aufstehen fahre ich ein paar Meter neben der Piste, da habe ich allerdings noch weniger Kontrolle. Also wieder zurück. Guler sagt, er habe die Ski gewacht, "sonst würde der Schnee am Holz kleben, und wir kämen gar nicht vorwärts". Ich bin da anderer Meinung, ein bisschen natürliche Bremse wäre mir ganz lieb, aber ich sage nichts. Mit Ach und Krach gelingen mir ein paar Pflugbogen.

Wir haben es geschafft und sind wieder unten am Lift - ohne Verletzung! Und dafür gibt es Jubel. Eine Skilehrerin fotografiert uns. Ich lächele gequält, hoffentlich hat sie nicht gesehen, wie erbärmlich ich den Hang hinunter gefahren bin. Dann kommt noch ein Skifahrer und beglückwünscht uns, der Koch aus der Skihütte nebenan klopft uns auf die Schulter. "Grandios, meine Hochachtung."

Es ist der Augenblick, an dem ich entscheide, nicht mehr zu fahren und statt dessen einzukehren. Beim Après Ski bin ich mit meiner historischen Ausrüstung ein Held. Zwar nur da - aber das muss ja keiner wissen.

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