Ein
beinahe glückliches Land
Frankfurter
Rundschau 26.07.09
30
Jahre nach dem Ende der blutigen Diktatur der Roten Khmer ist
der Tourismus die einzige Hoffung auf bessere Zeiten in Kambodscha
An
diesem lauen Abend in der Stadt Siem Reap deutet nichts darauf hin,
dass Kambodscha bitter arm ist und voller Opfer
einer grausamen Diktatur – bis auf dieses Lied. Die Straßen
sind gesäumt von neuen Hotels, die Märkte lebendig und hier
in der Pubstreet sitzen die Touristen vor den Lokalen, essen und trinken.
Die Stimmung ist ausgelassen und entspannt, wie in einem belebten Badeort,
obwohl das Meer 300 Kilometer entfernt ist. Aber da ist diese Melodie,
leise gegenüber Michael Jacksons „Billy Jean“, das
aus den Boxen einer benachbarten Bar hallt, und ein wenig schräg.
Eine kambodschanische Volksweise, sie kommt vom Boden vor der Buchhandlung.
Sechs Männer in roten Hemden sitzen da. Der eine hat eine Flöte
am Mund, ein anderer schlägt mit den Klöppeln auf die Saiten
eines Khim, einer Art Zither, ein anderer streicht mit einem Bogen über
seine Khmer-Geige.
Es könnte irgendeine Gruppe sein, die traditionelle kambodschanische
Musik macht, aber wer genauer hinsieht, erkennt viel mehr: Das Leiden
und die Hoffnung eines ganzen Landes.
Auf dem Boden neben dem Flötenspieler steht eine Unterschenkel-Prothese,
der Zither-Spieler sitzt auf den Stümpfen seiner Beine und der
Geigenspieler ist blind. Sao Saruon lässt die Flöte sinken,
Feierabend nach sieben Stunden Straßenmusik. Auf seinen dichten,
grauen Haaren liegt Staub. Er sieht müde aus. Während die
Gruppe ihre Instrumente einpackt, erzählt der 50-Jährige
seine Geschichte. 1986 war er als Soldat der im Norden Kambodschas
stationiert. Um 9 Uhr morgens, er war mit Kameraden auf Patrouille
und überquerte ein Reisfeld, gab es einen lauten Knall. Als Sao
im Krankenhaus wieder zu sich kam, hatte er starke Schmerzen. Dann
tastete er unter das Laken – sein Unterschenkel war amputiert.
Er war auf eine Landmine getreten. Sao zündet sich eine Zigarette
an, bläst den Rauch in den ausgelassenen Krach der Partymeile. „Das“,
er zeigt dorthin, wo einmal seine rechte Wade war, „war Pol
Pot.“
Pol Pot, einst Chef der Kommunistischen Partei Kambodschas, übernahm
mit seinen Roten Khmer 1975 die Macht. In den ersten Tagen nach seinem
Putsch wurde er noch vom Volk bejubelt, doch dann errichtete er ein
Terror-Regime. Der „Bruder Nummer eins“, wie er sich nennen
ließ, wollte Kambodscha zu einem Agrarstaat machen. Stadtbewohner
wurden deportiert und zur Feldarbeit gezwungen, Intellektuelle und
Andersdenkende umgebracht, hunderttausende verhungerten. 1,7 Millionen
starben, mehr als ein Viertel der damaligen Bevölkerung. „Es
war eine schreckliche Zeit“, sagt Sao. „Es gab kaum etwas
zu essen, wir hatten keinen Reis, nur ein bisschen Haferschleim.“ 1979
wurden die Roten Khmer durch den Einmarsch vietnamesischer Truppen
gestürzt. Danach führten sie noch bis 1998 einen Guerilla-Krieg
gegen die kambodschanische Regierung. In diesem Kampf verlor Sao sein
Bein. Auch seine Bandkollegen sind auf Landminen getreten, die in Kambodscha
einst so häufig waren wie Pfützen. In fast 30 Jahren Krieg
wurden die heute geächteten Waffen von allen Parteien in riesige
Mengen in der Kambodschanischen Erde vergraben – 10 Millionen
waren es einmal. „Es gibt immer noch so viele Minen“, sagt
Sao. Jeden Monat explodieren in Kambodscha laut Unicef 60 – noch
immer verletzten sie Menschen. Wo bleibt da die Hoffnung?
In der Region Siem Reap sind die Minen geräumt und in einem Korb,
der vor den Musikern auf dem Boden steht, liegen eine Menge Geldscheine – gespendet
von den Reisenden aus aller Welt. „Der Tourismus ist unsere einzige
Chance“, sagt Sao. „Wir müssten sonst betteln.“
Sao packt die blickende Kunststoffblume ein, die beim Spielen vor ihm
steht. Dann schnallt er seine Prothese an und verschwindet in der Dunkelheit. Eine
Millionen Besucher kamen 2008 nach Siem Reap, der heute reichsten
Stadt Kambodschas, zwei Drittel aus Asien, der Rest aus Europa, Nordamerika
und Australien. Vor zehn Jahren hatte die Provinzhauptstadt 18 000
Einwohner, heute sind es 200 000. Wo vor einem Jahr noch Wiesen und
Felder waren, stehen heute Häuserfronten. Straßennamen wurden
erst vor kurzem eingeführt, weshalb sie niemand kennt und jeder
die Straßen nur nach ihrer Funktion nennt. In der Pub Street
findet man die Kneipen, die Airport Road führt zum Flughafen,
ansonsten orientierten sich die Bewohner der Stadt an Hotels und Sehenswürdigkeiten.
Trotz des Booms ist Siem Reap ein Ort, mit einer angenehmen Atmosphäre
geblieben, tagsüber ruhig, ab dem Nachmittag lebendig, aber nicht
hektisch.
Der Grund für den Aufschwung Siem Reaps und die Hoffnung Kambodschas
auf bessere Zeiten liegt fünf Kilometer außerhalb der Stadt.
Dort befand sich zwischen dem 9. und dem 15. Jahrhundert das Zentrum
einer Zivilisation, von der europäische Historiker bis in die
Mitte des 19. Jahrhunderts nichts ahnten: Angkor. Übersetzt heißt
das in der Khmer-Sprache „Stadt“. Es war wohl die weltweit
größte Siedlung seiner Zeit. Eine Million Menschen sollen
dort gelebt haben. Wasser wurde über Kanäle in riesige Reservoire
geleitet. Das größte ist, der westliche Barray, existiert
noch heute: ein künstlicher See von acht mal zwei Kilometern.
Durch Bewässerung und das warme Klima konnten bereits damals drei
Reisernten im Jahr eingefahren werden, im nahe gelegenen See Tonle
Sap wurden großen Mengen Fisch gefangen. Dadurch waren weniger
Menschen als in anderen Kulturen damit beschäftigt, die Gesellschaft
zu ernähren. Das begründete den Reichtum von Angkor. Die
Könige ließen mächtige Tempel bauen – bis das
Reich nach 600 Jahren unterging.
An
der mit Bäumen gesäumten Straße, die heute nach
Angkor führt, wird gerade gebaut: neuer Asphalt, ein neues Drainage-System – und
eine doppelt so breite Fahrbahn wie vorher entsteht hier. Die Straße
ist voller Kleinbusse mit Touristen und mit Einheimischen auf Motorrollern.
Fahrer und Fahrerinnen tragen keine Helme, aber poppig bunte Mundschutze,
gegen den Staub der allgegenwärtigen Baustellen. Und plötzlich
liegt am Ende der Straße das Wunderwerk Angkor Wat offen da,
ein Wassergraben von 200 Metern Breite, eine Brücke, die zum Portal
führt – und dahinter erheben sich die mächtigen Türme
des Tempels, wie überdimensionale, steinerne Blütenknospen
in den blauen Himmel. Es ist ein Anblick der bewegt, so schön,
so groß, so einzigartig. Touristen aus aller Welt reisen nach
Kambodscha, vor allem wegen Angkor Wat.
Vor
der Tempelanlage, Gewusel. Busse und Autos setzen Gäste
ab. Händler bestürmen sie, im Angebot Holzflöten, Reiseführer
und Postkarten. Der 20 Meter breite Steinwall, der über den Wassergraben
führt, ist bunt von den Hemden und T-Shirts von annähernd
200 Touristen, zwischendrin leuchten orange die Kutten von buddhistischen
Mönchen. Hinter dem Eingang warten Mädchen mit vergoldetem
Kopfschmuck in glitzernd bestickten Kleidern. Die Kostüme sind
jenen nachempfunden, die die Apsaras, die Tempel-Tänzerinnen,
die hier einst lebten, trugen. Heute stellen sich die jungen Frauen
für einen US-Dollar vor die Silhouette von Angkor Wat und man
kann sich mit Ihnen fotografieren lassen. Wenige Meter weiter sind
ihre steinernen Vorbilder zu sehen. Die Wände des Tempels sind
verziert mit 1850 Apsara-Reliefs: anmutige Körper, opulenter Kopfschmuck
und entrückt lächelnde Gesichter.
Der hinduistischen Mythologie zufolge sind die Tänzerinnen Halbgötter,
deren Hauptaufgabe es ist, die Götter zu unterhalten – und
die Herrscher. Zur Zeit des König und Angkor-Wat-Bauherren Suryavarman
II, er regierte von 1113 bis 1150, sollen hunderte Apsaras hier im
Tempel gelebt und getanzt haben, bekleidet nur mit einem Tuch um die
Hüften und Kopfschmuck. Heute hat man Absperrbänder zwischen
Touristen und Relief gespannt, die Besucher konnten es nicht lassen,
die schönen Körper der steinernen Apsaras anzufassen – und
der Handschweiß begann, die Jahrhunderte alten Kunstwerke anzufressen.
Allerdings
sind die meisten Kunstschätze aus Angkor Wat, das
zu Ehren des Hindugottes Vishnu gebaut und später zum buddhistischen
Tempel umgewidmet wurde, geraubt worden über die Jahrhunderte.
Im 15. Jahrhundert eroberten die Siamesen Angkor und nahmen mit, was
sie tragen konnten, dann im 19. Jahrhundert kamen die Europäer,
erforschten die Tempel – und das hieß, man brach Teile
aus den Reliefs, holte Stauen von ihren Sockeln und schaffte sie nach
Europa. „Hier in Angkor ist eigentlich nur noch das, was man
nicht mitnehmen konnte“, sagt Javuth Pheach. Der 36-Jährige
Fremdenführer, ein freundlicher, bescheidener und sehr gebildeter
Mann, wirkt nicht bitter, er lächelt, als er das erzählt.
Kambodscha habe dringendere Probleme als Kunstschätze, die vor
150 Jahren geraubt wurden. Hohe Kindersterblichkeit, Arbeitslosigkeit,
geringe Lebenserwartung. Im täglichen Existenzkampf kümmert
die meisten Kambodschaner die Vergangenheit wenig – auch nicht
die Aufarbeitung der Verbrechen der Roten Khmer.
Obwohl das ganze Land, unter ihrem Regime gelitten hat, obwohl fast
jede Familie Angehörige verloren hat, wird deren Anführer
Pol Pot von vielen Menschen nicht verurteilt, manche pilgern gar zu
seinem Grab, weil sie sich davon eine segensreiche Wirkung für
ihr Leben erhoffen. „Seine Ideen waren am Anfang nicht schlecht“,
sagt Javuth. Er zweifelt daran, dass der echte Pol Pot die Massaker
an der Zivilbevölkerung befohlen hat, ja, dass der Mann, der 1998
im Dschungel starb und sogleich verbrannt wurde, überhaupt der
Bruder Nummer Eins war. „Vielleicht hat sich jemand für
ihn ausgegeben und all diese Verbrechen begangen“, sagt er.
Javuth, ist einer derjenigen, die direkt vom Tourismus profitieren,
sein Job ist für kambodschanische Verhältnisse gut bezahlt.
1993, als nach mehr als 20 Jahren die ersten freien Wahlen in Kambodscha
stattfanden, boten die Vereinten Nationen Lehrgänge an, in denen
man sich zum Fremdenführer ausbilden lassen konnte. Javuth bewarb
sich, wurde angenommen – und machte parallel zu seiner Ausbildung
in einem Hotel noch eine Schulung als Guide, inklusive intensivem Geschichts-Unterricht. „Ich
habe sehr großes Glück gehabt, dass meine Eltern immer großen
Wert auf die Bildung ihrer Kinder gelegt haben“, sagt er. Seine
Eltern, er Soldat, sie Betreiberin einer Garküche, finanzierten
seine Schulbildung. Er zeigt auf Kinder, die vor dem Tempel Souvenirs
verkaufen. „Sie werden diese Chance nicht haben“, sagt
er, schüttelt den Kopf. „So viele Menschen leben hier von
der Hand in den Mund.“ Auch wenn es für ihn und seine Frau
eine große Anstrengung bedeutet, seine vier Kinder gehen allesamt
zur Schule und sollen studieren.
Javuth
führt weiter durch Angkor Wat, über Treppen geht
es ganz oben, auf die Terrasse direkt unterhalb der Türme. Weniger
mächtig als aus der Entfernung sehen sie von hier aus, man erkennt
die Ornamente, die Blätter der geschlossenen Lotusblüte.
Es sind wohl 100 Touristen hier auf der höchsten begehbaren Ebene
des Tempels, aber es ist still, Schweigen und Flüstern im Angesicht
im Angesicht der Schönheit im Herzen Angkor Wat. Auch die Roten
Khmer konnten sich ihr wohl nicht entziehen: Obwohl sie alle Religionen
auslöschen wollten und im ganzen Land Tempel zerstörten – die
heiligen Stätten von Angkor rührten sie nicht an.
Warum
das Reich in Angkor im Mittelalter zugrunde ging, ist bis heute nicht
geklärt. Wahrscheinlich ist, dass es mehrere Gründe
gab. Fremde Armeen griffen an - 1431 eroberten Soldaten des Thai-Königreiches
Ayutthaya Angkor vorübergehend. Dabei sollen Bewässerungssysteme
zerstört worden sein, ohne die die Großstadt nicht überlebensfähig
gewesen sein soll. Andererseits bekam der Handel eine größere
Bedeutung – es ist auch möglich, dass der letzte König
von Angkor vor allem deshalb 1434 seinen Sitz in die Nähe des
heutigen Phnom Penh verlegte: Das liegt am Mekong, der wichtige Wasserstraße
Südostasiens.
230
Kilometer südlich: Phnom Penh, die kambodschanische Hauptstadt,
zwei Millionen Einwohner, 500 000 Mopeds, ungezählte Autos und
an diesem Morgen wie so oft: Stau. Trotz des ständigen Verkehrschaos´:
Phnom Penh ist eine schöne Stadt, sauberer als man es vermuten
würde für die Hauptstadt eines Landes, das laut Internationalem
Währungsfonds ärmer ist als der Sudan. Und es gibt eine Menge
ansehnlicher Gebäude. Da ist der Königspalast in der Stadtmitte,
goldgelb und reich verziert, ragen seine spitz zulaufenden Giebel in
die Morgensonne, andernorts kann man Villen sehen, die während
der französischen Kolonialzeit gebaut wurden - und die Gebäude
aus der goldenen Ära der kambodschanischen Architektur. In den
60er Jahren entwickelte man hier einen eigenen Stil mit Elementen aus
der Bauhaus-Schule, aus der Kolonialzeit und der Angkor-Epoche. Kaum
vorstellbar, bei der Geschäftigkeit, die heute in der Stadt herrscht:
Unter den Roten Khmer war Phnom Penh eine Geisterstadt, die Einwohner
wurden aufs Land vertrieben – und die meisten derjenigen, die
dort waren, wünschten sich wohl nichts mehr, als woanders zu sein.
Etwas
südlich des Zentrums der kambodschanischen Hauptstadt.
Hinter einem Stacheldrahtzaun liegt die Gedenkstätte Toul Sleng,
eine ehemalige Schule, die die Roten Khmer zum Gefängnis S-21
machten. Man hat es weitgehend so erhalten, wie die vietnamesischen
Truppen es vorfanden bei der Befreiung 1978: Ein hoher Wellblechzaun
vor der ursprünglichen Begrenzungsmauer des Schulhofs, dazwischen
ein Meter gefüllt mit Stacheldraht, dahinter der Betonbau, drei
Stockwerke, Flachdach. Touristen, Europäer, Amerikaner, keine
Einheimischen gehen schweigend durch den Gebäude-Komplex. Im Hof
steht eine Reckstange, an der Kinder turnten, bevor die Roten Khmer
kamen. Die Wärter hängten Gefangene kopfüber daran auf,
versenkten ihre Oberkörper minutenlang in Fässer gefüllt
mit Kot und Urin, eine der Folter-Methoden, um Geständnisse von
ihnen zu erhalten. 17 000 Menschen waren in Tuol Sleng während
der Herrschaft der Roten Khmer untergebracht, sieben überlebten.
Die restlichen Menschen wurden nachts nach Choeung Ek, bekannt als „Killing
Field“, gebracht und ermordet.
Bis
heute ist keiner für die Verbrechen der Roten Khmer zur
Rechenschaft gezogen worden. Jetzt 30 Jahre nach Ihrem Sturz, bemüht
sich ein von den Vereinten Nationen initiiertes und finanziertes Gericht
fünf Verantwortliche zu verurteilen. Der erste Prozess gegen Kang
Kek Leu, den Chef des Gefängnis Tuol Sleng, läuft gerade,
weitgehend unbeachtet von der kambodschanischen Öffentlichkeit.
Die meisten Kambodschaner, mit denen man spricht, wollen die Vergangenheit
vergessen und nach vorne schauen.
Am
Abend, eine Flussfahrt über den Tonle Sap-Fluss und den Mekong
bei Phnom Penh, kleine Fischerboote fahren aufs Wasser hinaus, der
Königspalast, die Hochhäuser und Kolonialbauten liegen im
orangen Licht der untergehenden Sonne, idyllisch wirkt es hier. „Unser
Klima ist warm, die Landschaft schön, die Flüsse und Seen
sind voller Fische, die Böden fruchtbar, Naturkatastrophen gibt
es nicht“, hatte Pheach Javuth, der Fremdenführer aus Siem
Reap gesagt. „Mit allem hat Kambodscha Glück gehabt – außer
mit der Politik.“
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