Beat Anthamtten - Foto: Frederik Jötten
© Jötten


Das alte Lied

Die Zeit 04.01.15

Vor 30 Jahren drehte die Popgruppe Wham! in Saas-Fee das Video zum Song »Last Christmas«. Eine Pilgerreise

Wenn ich noch an irgendetwas glaube, dann an Last Christmas. Auf diesen Song ist im Advent Verlass: Wie eine riesige Föhnwelle bläst das Lied der Gruppe Wham! dann aus den Radios über das Land. Last Christmas ist der am häufigsten gespielte Weihnachtspopsong aller Zeiten. Und ein Stück konservierter achtziger Jahre – ein zuverlässiger Trip in die Kindheit für mich und viele andere. In diesem Jahr wird das Lied 30 Jahre alt. Höchste Zeit also für eine Spurensuche: Als Last Christmas -ianer reise ich nach Saas-Fee im Schweizer Kanton Wallis, wo das Video zum Song gedreht wurde.

Es ist schon Nachmittag, als ich mit dem Bus in dem 1700-Einwohner-Ort ankomme. Saas-Fee liegt in einem Tal, zu drei Seiten erheben sich steile Berge und werfen ihre Schatten auf das Dorf. Nur die Gipfel leuchten noch orangefarben in der Sonne. Dazu liegt viel Schnee – genau wie damals! Und am Ortsrand sehe ich sogar George Michael. Mit Vokuhilafrisur und gebräuntem Gesicht steht er da; neben ihm, genauso gestylt, sein Bandkollege Andrew Ridgeley. Leider sind die beiden nur auf einem Plakat abgebildet: Es lehnt an einer Scheune auf dem Weihnachtsmarkt »Saas Christmas«, der dieses Jahr erstmals zu Ehren von Last Christmas veranstaltet wird. Ein paar alte Stadel wurden zu Ständen umfunktioniert, dazwischen zwei Bierzeltgarnituren, an denen fünf Besucher sitzen. Hier sieht man mehr Viertausender (sieben) als Menschen. Ein bisschen mehr Ehre zum 30. Jubiläum hätte ich mir schon vorgestellt. Der Song wird noch nicht mal gespielt, stattdessen schallen aus Lautsprechern jazzige Weihnachtslieder.

Vor einer Scheune schlürft Beat Anthamatten einen Glühwein. Er ist der Mann, der Wham! damals nach Saas-Fee holte. »Eigentlich hätte das Video in Gstaad gedreht werden sollen«, erzählt er mit tiefer Stimme, »aber dort gab es keinen Schnee.« Der Location-Scout des Teams fragte daher an, ob Wham! nach Saas-Fee kommen könnten – und Anthamatten, damals Direktor des Fünf-Sterne-Hotels Walliser Hof, sagte spontan zu, ohne die Band zu kennen. »Es war Anfang November, Zwischensaison, wenig los. Und die Crew bestand aus 30 Leuten, da habe ich nicht lange überlegt.« Fünf Tage später fuhr eine Stretchlimousine mit Wham! vor – und musste wieder umdrehen. Saas-Fee ist autofrei. Die Popstars mussten auf »Elektros« umsteigen, kleine batteriegetriebene Wägelchen, die bis heute im Ort das einzige Transportmittel sind.

Anthamatten führt mich zum ehemaligen Hotel Walliser Hof, das nun Ferienart heißt: wuchtige Holzbalkone, weit ausladender Giebel, klassische Alpenarchitektur. An der Flanke des Gebäudes bleibt Anthamatten stehen. »Hier habe ich das einzige Bild von George Michael in Saas-Fee gemacht, das wir heute haben«, sagt er. Eigentlich wollte er beide Wham!-Stars zusammen für ein Bild vor dem Hotel gewinnen. »Aber das war unmöglich, die hatten sich damals schon zerstritten. Sie wollten auch Suiten, die möglichst weit voneinander entfernt waren.«

Die elektrische Schiebetür des Hotels öffnet sich, und im rustikalen Foyer, unter Autogrammkarten von Schweizer Handballern, Radfahrern und Leichtathleten, hängt es: Anthamattens Foto von George Michael in Saas-Fee. Er hat die Haare nicht ganz so schön geföhnt wie im Video. Im vierten Stock ist die einstige Adlerhorst-Suite, die heute Wellness-Suite heißt. Hier war George Michael untergebracht. Die Zimmertür ist in marmorierten Pastelltönen gestrichen, Hellblau und Mintgrün; Achtziger-Jahre-Farben als Reminiszenz an den Besuch des Popstars. Das Bad ist dunkelbraun gekachelt wie einst. Das ist also das Original-George-Michael-Klo!

Die Suite geht über zwei Stockwerke. Oben im Schlafzimmer, gegenüber vom Bett, ist ein Whirlpool, dahinter eine Sauna. Auch das gab es alles vor 30 Jahren schon. Wie residierten Wham! in dieser Umgebung denn so, wie waren die Popstars drauf? »Davon habe ich nichts mitbekommen.« Beat Anthamatten zuckt mit den Schultern. »Ich war damit beschäftigt, den Aufenthalt der Filmcrew zu organisieren.« Vielleicht könne seine Schwester weiterhelfen, die habe damals an der Rezeption gearbeitet.

Sybille Meyer führt jetzt die Elite Alpin Lodge, fünf Minuten Fußweg entfernt. Sie öffnet die Tür, glänzende braune Haare, frischer Teint – 50 ist sie heute, doch sie sieht mindestens zehn Jahre jünger aus. Mit 20 stand sie auf George Michael. Sie war eine der wenigen in Saas-Fee, die die Band damals kannten – obwohl Wham! 1984 schon Welthits wie Wake me up before you go-go hatten. »Ich war sehr aufgeregt«, erzählt sie. »George Michael galt ja als schöner Mann.« Doch dann stieß sie auf dem Flur einmal beinahe mit ihm zusammen, und er war nicht geschminkt. »Ich habe mich richtig erschrocken, wie fertig der aussah, da war es schlagartig vorbei mit der Schwärmerei.« Den Song aber, den mag sie noch immer. »Ich lege ihn im Advent oft auf, auch für die Gäste – er erzeugt eine Weihnachtsstimmung, ohne zu aufdringlich zu sein.«

Der Song berührt sogar Leute, die eigentlich einen anderen Musikgeschmack haben. Ein Kollege von mir, der normalerweise Heavy Metal mag, hat sich zum 30-jährigen Last Christmas- Jubiläum gut 30 Coverversionen angehört und mir gesagt: »Der Song kann wirklich was – er lässt sogar die Punks, die ihn covern, weich werden.« Vielleicht liegt die Magie des Liedes in seiner eigentümlichen Mischung. Eigentlich handelt der Text von einer verschmähten Liebe: » Last Christmas, I gave you my heart, but the very next day you gave it away. « Doch es ist alles halb so schlimm. Denn erstens ist laut Text die nächste Freundin schon am Start. Und zweitens kippen Melodie und Synthesizer-Sound so viel Zuckerguss über die Strophen, dass man den Kummer nicht ernst nehmen kann. Dazu noch die Worte Last Christmas, die das Ganze mit Weihnachtsstimmung und Kindheitserinnerungen würzen – da wird man nicht traurig, sondern wohlig sentimental.

Das Video bebildert im Prinzip den Text: Bei einer Weihnachtsfeier mit einer Gruppe von Freunden treffen George Michael und seine neue Flamme auf seine Exfreundin, die nun mit Andrew Ridgeley zusammen ist.

Zu Beginn des Clips kommt George Michael mit seiner Neuen im Jeep an der Talstation einer Gondel an und stößt dort auf seine Ex samt Lover. Von dort fahren alle hinauf zur Party in einem verschneiten Chalet. Die Eingangsszene wurde in Saas-Fee an der Talstation der Felskinnbahn gedreht. Damit George Michael im Jeep vorfahren konnte, bekam die Crew eine Sondergenehmigung von der Gemeinde. Ich dagegen lege die fast ebenerdige Strecke auf Skiern im Schlepplift zurück. Anders als viele Skigebiete hat Saas-Fee die meisten Schlepplifte noch nicht durch Sesselbahnen ersetzt. Das ist sehr Achtziger. Die klotzigen Gondeln im Clip wurden jedoch zwischenzeitlich gegen moderne Panorama-Waggons ausgetauscht, mit Scheiben bis zum Boden. Aber an der Talstation ist immer noch die Betontreppe mit dem armeegrünen Geländer, die zur Gondel führt – hier ist George Michael gegangen.

In die Gondel zu steigen, kann ich mir allerdings sparen. Die Bergstation liegt auf 3000 Metern, da oben gibt es kein Chalet. Die Hütte aus dem Video steht im Tal. Genau genommen sind es zwei Gebäude: Im einen wurden die Innenaufnahmen gedreht, vor dem anderen die Außenansichten. Auf dem Weg zu ihnen schaue ich im Dorf noch bei Stefan Zurbriggen vorbei. Er steht in seinem Sportgeschäft »A–Z Sports & Fashion«; hinter ihm ein Regal mit Glitzerboots. Das Revival der achtziger Jahre ist auch in Saas-Fee angekommen. Im November 1984 fuhr Zurbriggen die Crew und die Ausrüstung mit dem Elektro vom Hotel zu den Drehorten. »Die waren gut drauf«, sagt er und grinst. »Die haben den ein oder anderen Joint geraucht.«

Ihm ist besonders die Brosche in Erinnerung geblieben: Im Video gibt es eine kurze Rückblende ins vergangene Jahr, in der man sieht, wie George Michael das Schmuckstück seiner damaligen Freundin schenkte. Die Brosche steht also für die Exbeziehung. Während des Drehs war sie nun eines Tages verschwunden. »So ein girl aus der Crew hat behauptet, sie habe sie auf dem Elektro abgelegt«, sagt Zurbriggen. Die Brosche stammte angeblich von Andrew Ridgeleys Großmutter. »Sie war ein Erbstück, so was bedeutet bei uns in den Bergen viel.« Also suchte er mit einem Rechen danach, unterstützt von zwei Freunden. »Fünf Stunden, völlig umsonst.« Am Ende tauchte die Brosche im Hotel wieder auf.

Kundschaft betritt den Laden, Zurbriggen verabschiedet sich. Aber dann dreht er sich noch mal um: »Ich werde nie vergessen, wie oft die über den Zaun gesprungen sind.« Er schüttelt den Kopf. »Als sei das was total Besonderes. Für uns ist das häufig einfach der kürzeste Weg.«

Im Video spielt der Zaun um das Chalet tatsächlich eine wichtige Rolle. Immer wieder hüpfen die Beteiligten darüber. Die Hütte, vor der die Außenaufnahmen gedreht wurden, steht an einem Hang. Auf den ersten Blick ist sie nicht wiederzuerkennen. Erstens wurden seit 1984 weitere Ferienhäuser in ihrer Nachbarschaft gebaut, zweitens sind die Bäume vor dem Chalet so sehr gewachsen, dass sie die Fassade verdecken. Aber um das Haus herum ist ein Zaun aus dicken Ästen, das Holz hat zum Teil Schimmel angesetzt – garantiert ein Original von vor 30 Jahren. Das also ist der Ort, an dem sich George Michael die Hoden geprellt hat oder zumindest so tut: Bei Minute 1:58 im Video greift er sich mit den Händen in den Schritt wie ein Fußballer, der den Ball in die Weichteile bekommen hat. Ich bin gerührt. An diesem Ort sollte man eine Gedenkplakette aufhängen.

Drinnen im Chalet, das in Privatbesitz war, durfte die Crew nicht drehen. Die Szenen, in denen George Michael seiner Ex schmollende Blicke zuwirft, entstanden in einem Haus 200 Meter weiter an einem Hang über dem Ort. Nach dem Tod seiner Besitzerin, einer Baronin, war es an die Gemeinde gefallen. Leider hatte die Dame mit Dutzenden Dackeln und Katzen darin gelebt, sodass es erst mehrere Tage lang geputzt werden musste.

Heute ist in dem holzverschalten Chalet das »Gemeindezentrum Steinmatte« untergebracht. Innen stehen weder Tische noch Stühle, und natürlich liegen keine Geschenke herum. Da kommt keine Last Christmas- Atmosphäre auf. Per Elektro fahre ich ins Hotel.

Meine Spurensuche, sie glich ein bisschen der Begegnung mit einer ehemaligen Liebe: Ein paar Erinnerungen an frühere Zeiten wurden wach, ein paar Dinge habe ich neu erfahren. Doch viel ist nicht mehr greifbar von dem, was war.

Diese besondere Stimmung, sie kommt wohl nur im Song und im Video rüber, denke ich am Abend, als ich mir den Clip noch mal im Internet ansehe und beobachte, wie die Gondel die Gäste der Weihnachtsfeier am Schluss ins Tal bringt. Lachend steigen alle aus. Auch George Michael mit seiner neuen Freundin im Arm. Kein Eklat, alles gut. Weihnachten eben.

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