Die Insel der Affen
NEON 08.08
Auf Ngamba Island im Viktoriasee leben Menschen in Käfigen und Schimpansen in der Freiheit. Mit einigen der Affen kann man Hand in Hand durch den Regenwald spazieren.

An einem Dienstagmorgen um sieben Uhr stößt Gerald die Stahltür zur Wildnis auf. Vor mir liegt der Regenwald, hinter mir ein vier Meter hoher Zaun mit stromführenden Drähten. Er soll die Menschen vor den Lebewesen schützen, mit denen ich, Hand in Hand, die nächste Stunde verbringen werde: Schimpansen. Unsere nächsten Verwandten sind durchschnittlich halb so groß wie Menschen - dafür aber bis zu sieben Mal so stark; Schimpansen haben schon Menschen umgebracht. Mit diesem Wissen treten zwei Frauen, fünf Männer und ich in grünen Overalls auf eine Lichtung. Vier von ihnen sind ugandische Tierpfleger, der Rest Touristen. Es riecht nach Erde, Papageien und Webervögel kreischen. Ich befinde mich auf Ngamba Island, einer Insel im Viktoriasee, 23 Kilometer entfernt vom ugandischen Festland.
Seit zehn Jahren gehört hier Regenwald von einer Fläche von 40 Hektar 45 Schimpansen.
Es sind Waisen, viele mussten zusehen, wie ihre Eltern abgeschlachtet wurden, Primatenfleisch gilt in manchen Regionen Afrikas als Delikatesse; Affenkinder lassen sich als Haustiere verkaufen. Die ugandischen Behörden beschlagnahmen jedes Jahr Schimpansen, die in Körben kaum größer als sie selbst gehalten werden, die abgemagert sind und misshandelt wurden. Auf Ngamba Island haben sie ein neues Zuhause gefunden. Das Projekt finanziert sich aus Spenden und durch Touristen.
Denn auf der Insel gibt es die weltweit einzige Möglichkeit, mit einer Gruppe von Schimpansen durch den Regenwald zu ziehen. Nirgendwo kann man unseren nächsten Verwandten in der Natur so nahe kommen.
Der Zaun in unserem Rücken trennt den kleinen Teil der Insel, auf dem die Tierpfleger wohnen, von der Welt der Affen. Das Tor fällt zu, ich knöpfe den Overall auf, nehme aus meiner darunter verborgenen Hüfttasche eine Wasserflasche und trinke einen Schluck. »Was hast du da?« Gerald, der Chef der Tierpfleger schaut mich bestürzt an. »Eine Flasche Wasser«, antworte ich. »Die musst du hier lassen - die Chimps werden sie dir wegnehmen und dir damit auf den Kopf hauen.« Die Brille musste ich schon abgeben, mein Halstuch auch. Wie gefährlich ist dieser Ausflug? Ich werfe die Flasche auf die andere Seite des Zaunes.
Zwei Minuten später stehen unsere Wegbegleiter vor uns im hohen Gras: acht Schimpansen- Jungtiere, von den Tierpflegern ausgesucht, weil sie nicht aggressiv gegenüber Menschen sein sollen. Der kleinste Schimpanse, er reicht mir bis knapp über die Kniekehle, kommt auf mich zu, bleibt vor mir stehen. Sein Fell ist dunkelbraun, dicht und struppig. Das Tier blickt mich an aus seinen braunen Augen, es hat ein freundliches, schwarz gesprenkeltes Gesicht. »Das ist Nakuu«, sagt Gerald. »Sie will mit dir gehen.« Ich bin gerührt und aufgeregt. Was soll ich machen? Gerald sagt: »Dreh dich um und geh in die Hocke.« Ich tue, was er sagt - und Nakuu schlingt Arme und Beine um mich. Ich spüre ihre behaarten Arme an meinem Hals, ihren warmen Atem in meinem Nacken. Mir wird heiß, sie könnte mich jetzt erwürgen oder mein Genick brechen. Gerald scheint mir meine Gedanken anzusehen, er lacht aus vollem Hals. »Keine Angst, sie will, dass du sie hucke pack nimmst.« Nakuu sei fünf Jahre alt und ein liebes Mädchen. Ich stehe auf, Nakuu ist bestimmt fünfzehn Kilo schwer. Nach wenigen Metern steht mir der Schweiß auf der Stirn.
Bald ist aus der Schimpansen- und der Menschengruppe eine einzige geworden. Eine Frau führt einen Schimpansen an der Hand, zwei Touristen tragen Affen auf dem Rücken. Ein Mann hinter mir hat einen deutlich größeren Affen abgekriegt. »Der wiegt bestimmt 25 Kilo«, stöhnt er. Ich habe wohl Glück gehabt. Wir gehen einen schmalen Pfad entlang, der durch den Regenwald führt, ein Zweig versperrt mir auf Kopfhöhe den Weg, ich bücke mich und merke, wie Nakuu sich schutzsuchend an meinen Rücken schmiegt wie ein kleines Kind. Ich spüre tiefes Glück, würde Nakuu am liebsten drücken. Für einen Moment vergesse ich ihr Gewicht. Dann blicke ich mich um. Es ist ein seltsames Bild: Wir Menschen gehen, einige bepackt mit Schimpansen, den Pfad entlang. Links und rechts von uns zieht die Horde der übrigen Affen mit Geschrei durchs Unterholz.
Das Schimpansenreservat auf Ngamba gibt es seit zehn Jahren. Damals wurden in Uganda besonders viele Schimpansen von den Behörden konfisziert. Man wusste nicht wohin mit den Tieren. Mitarbeiter des Jane Goodall Institutes entdeckten eine bewaldete, unbewohnte Insel, sammelten Spenden - und kauften Ngamba Island für die Affen. Ein Glücksfall, denn einen natürlichen Lebensraum für Schimpansen findet man nur noch selten in Uganda.
Viele Wälder wurden abgeholzt, um Platz für Äcker und neue Siedlungen zu schaffen - heute leben vier Mal so viele Menschen in Uganda wie noch in den 60er Jahren, von den einst 50 000 Schimpansen sind 5000 übrig geblieben.
Das ist typisch für Zentralafrika. Schimpansen werden deshalb von der Weltnaturschutzunion als »stark gefährdet« eingeschätzt.
Langfristig schützen lassen sie sich wohl nur, wenn sie ihren menschlichen Nachbarn einen Vorteil bringen. Zum Beispiel durch Tourismus wie in Ngamba. Hier profitieren viele von den Reisenden. Der Bootsführer, der Besucher und Material auf die Insel bringt, die Menschen, die Kunsthandwerk herstellen, das dort verkauft wird, und die Tierpfleger, die uns durch den Wald führen.
Plötzlich gibt es riesigen Krach. Aikuru, ein Schim pansenweibchen, springt auf einen toten Baum am Wegesrand. Das Holz biegt sich weit in Richtung Boden, schnellt zurück und bricht. Der Affe wird ein paar Meter weiter auf den Boden geschleudert. Wüstes Geschrei - aber Aikuru steht sofort wieder auf und bespringt einen kleinen Baum. Äste knicken ab. »Sie sind keine nachhaltigen Bewohner des Regenwalds, unsere Chimps.« Gerald schüttelt den Kopf. »Wenn sie hier draußen übernachten und sich jeden Abend einen Schlafplatz einrichten würden, wäre vom Wald bald nichts mehr übrig.« Auf Ngamba kommen die Schimpansen jede Nacht freiwillig durch einen vergitterten Gang aus dem Regenwald in einen Käfig direkt neben den Häusern der Tierpfleger. Dort warten Essen - was auf der Insel wächst, könnte nur zwei Schimpansen ernähren - und Hängematten.
Aber jetzt ist Tag, und ich habe Nakuu immer noch auf dem Rücken. Ich bin erschöpft, setze sie auf dem Boden ab. Sie macht ein paar Schritte, greift eine Liane - und schwingt sich zu ihren Artgenossen in den Wald. Wenige Minuten später, Licht am Ende des Regenwaldtunnels - vor uns liegt die Weite des afrikanischen Meeres: der Viktoriasee. Leichter Wind kräuselt die Wasseroberfläche, ein weißes Passagierschiff fährt in der Ferne vorbei. Weit weg ist der Außenbordmotor eines Fischerbootes zu hören - und ganz nah das Geschrei der Affen, hoch, durchdringend, hektisch. Sie haben einen an die vierzig Meter hohen Feigenbaum mit ausladendem Astwerk erobert, auf dem sie herumtollen und um Früchte streiten.
Als wir nach unserer Rast weiterlaufen, folgen uns die Schimpansen von selbst. »Für sie sind wir eine Gruppe«, sagt Gerald. »Deshalb folgen sie uns.« Ich habe mich erholt und gehe in die Knie, um Nakuu huckepack zu nehmen.
Ich wende ihr den Rücken zu, nichts passiert. »Jetzt will sie nicht mehr«, sagt Gerald.
Sie streckt mir stattdessen die Hand hin: glatte, helle Haut, dreigliedrige Finger, Fingernägel - wer einmal einem Schimpansen die Hand gegeben hat, weiß, dass uns Menschen nicht viel von ihnen unterscheidet. Nakuu die Hand zu geben, ist, als ob ich einem Kind die Hand reichen würde - und genauso verhält sie sich auch. Jetzt hat sie eben keine Lust auf Erwachsene und spielt lieber mit ihren Freundinnen.
Ein Schimpanse drängt sich auf dem schmalen Weg an mir vorbei - und ich ertappe mich da - bei, dass ich denke: »Wie unfreundlich, der hätte sich ja auch mal entschuldigen können!« Das Schimpansenweibchen Yoyo hat währenddessen eine Frucht von einem Baum geholt, die aussieht wie eine Rispe orangefarbener Trauben. Es springt auf den Boden, um sie zu essen. Mit riesigem Geschrei stürzen sich zwei andere Tiere auf es und kämpfen um die Frucht.
Sie stecken sich Fruchtstücke in den Mund - und spucken sie gleich wieder aus. »Die Frucht ist ungenießbar.« Gerald schmunzelt. »Viel Lärm um nichts, wie so oft bei den Chimps.« Auf ein mal machen sie einen Bogen um den Pfad - sie hangeln sich links und rechts davon an Ästen entlang, ohne den Boden zu berühren. »Achtung!«, ruft Gerald. Quer über den Weg läuft eine Armee Ameisen. Die Tierpfleger rennen, Gerald sagt, wir sollten schnell weiterkommen, mit möglichst wenigen Bodenberührungen. »Es tut furchtbar weh, wenn diese Ameisen dich beißen.« Wir hüpfen durch den Wald. Zwei Minuten später krabbeln mir zwei Ameisen durchs Gesicht. Zum Glück eine weniger unangenehme Spezies.
Dann stehen wir wieder an unserem Ausgangspunkt vor dem Zaun. Gerald nimmt Nakuu auf den Arm, krault ihr das Fell. Dann lässt er sie auf den Boden herab, packt Nakuus linke, bedeutet mir, ich solle ihre rechte Hand nehmen.
Wir schaukeln sie hoch und höher, sie quietscht vor Vergnügen. Ich gebe Nakuu noch einmal die Hand. Sie schaut mich an, den Mund geöffnet, ohne die Zähne zu zeigen. Sie lächelt! Ich winke ein letztes Mal, dann folge ich Gerald durch die Stahltür. Wir Menschen kommen ins Gehege - und die Schimpansen bleiben in der Freiheit. So ist das auf Ngamba.
In Uganda haben Schimpansen fast keinen natürlichen Lebensraum mehr.

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