© Markus Gmeiner/Vorarlberg Tourismus GmbH Ein ganz schöner Ritt Die Zeit 19.02.15 Auf Skiern von Nord nach Süd durch Vorarlberg: Das heißt unberührte Hänge – aber auch Kälte, Schweiß, Lawinengefahr Warum habe ich mir das angetan? Ich stehe im Schneesturm und wünsche mir, dass ich mich nie angemeldet hätte für diese Durchquerung von Vorarlberg auf Skiern. Um mich herum ein Geräusch, das klingt, als würde ein Gewitterregen gegen ein Dachfenster prasseln. Nur bin ich leider nicht in einem Haus, sondern auf einem Bergrücken in circa 2000 Meter Höhe. Graupelsplitter hämmern gegen meinen Helm. Der Wind beißt mein Gesicht. Schemenhaft erkenne ich die Bergführer, die offenbar auch nicht weiterwissen. Mal deuten sie in die eine, mal in die andere Richtung. Wortfetzen dringen durch das Getöse. Habe ich »Mayday« gehört? Ein Tag zuvor sieht Vorarlberg sehr viel freundlicher aus. Sonne und blauer Himmel, Neuschnee auf den Gipfeln. Vom Walmedinger Horn, einem kleinen Skigebiet im Kleinwalsertal – nur zwei Lifte, aber viele freie Hänge ohne präparierte Pisten – schauen wir bis auf die sanften Hügel des Allgäus. Wir, das sind acht Skifahrer aus vier Nationen, die sich zusammengetan haben, um das westlichste österreichische Bundesland von Norden nach Süden auf Skiern zu durchqueren. Wo es geht, wollen wir die Bergbahnen nutzen, ansonsten aus eigener Kraft aufsteigen, mit Steigfellen unter den Skiern oder auch zu Fuß. Die Tour nennt sich »Ski Ride Vorarlberg« und verspricht viele Abfahrten abseits der Piste. Freeriding, wie man heute sagt. Umgeben von grandioser Natur, wollen wir im Pulverschnee ins Tal gleiten, möglichst weit weg von Liftanlagen und Après-Ski-Gedröhne, und sind, zumindest theoretisch, bereit, dafür einiges in Kauf zu nehmen: schweißtreibende Anstiege, eisige Kälte, Lawinengefahr. Aber wir sind keine leichtsinnigen Abenteurer. Unsere Lawinenverschüttetensuchgeräte haben wir schon nach dem Frühstück angelegt, in unserem Rucksack ist ein Airbag. Vor der ersten Abfahrt erklären unsere beiden Bergführer, Helmut Düringer, genannt »Heli«, 42, und Markus Moosbrugger, genannt »Moses«, 49, was wichtig ist beim Fahren im Gelände: Die Hände nicht durch die Schlaufen der Skistöcke stecken. In der Lawine können die Stöcke wie Anker wirken und einen nach unten ziehen. Dann zeigen uns die Bergführer, wie man den Airbag in unserem Rucksack entsichert: Reißverschluss öffnen und einen Griff herausklappen, mit dem man das Luftkissen im Notfall auslösen kann. Heute ist die Gefahr, von einer Lawine weggerissen zu werden, allerdings gering, Stufe 2 auf einer Skala von 1 bis 5. Ich bin vor allem besorgt, der schlechteste Fahrer in der Gruppe zu sein. Vier meiner Mitreisenden sind Österreicher (also gute Skifahrer qua Geburt), der Pole und der zweite Deutsche tragen sehr hochwertige Skikleidung, und die Holländerin tritt sehr selbstbewusst auf. Als die Bergführer uns vorfahren lassen, um unser Können einzustufen, bin ich nervös, fahre mäßig und komme prompt zu Moses in die schwächere Gruppe. Das kratzt an meinem Ego, ist aber vermutlich die richtige Entscheidung. Auf der Piste bin ich zwar ein ganz passabler Fahrer, doch daneben komme ich schnell an die Grenzen meiner Technik. In unserem ersten Tiefschneehang fehlt mir das Selbstvertrauen, zwei erbärmliche Schwünge in Rückenlage sind die Folge.Ich beobachte erleichtert, dass keiner aus meiner Gruppe geschmeidig den Hang herunterkommt. Jolanda, die Holländerin stürzt. Ich helfe ihr auf und fühle mich besser. Am nächsten Hang komme ich gut zurecht – die Bedingungen sind auch wirklich ideal. Eine fingerdicke Schicht frischer Schneekristalle liegt auf dem lockeren Weiß vom Vortag. Wie von selbst teilen die Skier den Schnee. Im Nachmittagslicht werfen die Gipfel dramatische Schatten. Aber als wir die Talstation erreichen, schneit es – und hört bis zum nächsten Morgen nicht mehr auf. Aufstieg im Nebel. Im Lift zur Bergstation Hoher Ifen reicht die Sicht nicht bis zum nächsten Sessel. Oben geht es weiter mit Steigfellen durch ein dichtes Weiß. Im diffusen Licht ist nicht zu erkennen, wo der Hang endet und der Nebel beginnt. Nach zwanzig Minuten sind wir auf einem Bergrücken angekommen. Felle von den Skibelägen entfernen mit klammen Fingern. Der Wind peitscht, die Wangen schmerzen. Langsam tasten sich die Guides den Hang entlang, wir folgen. Stop-and-go, eine gefühlte Ewigkeit lang. Keiner scherzt, keiner spricht. Alle haben vermutlich denselben Gedanken: Kommen wir hier je wieder runter? Mayday? Die Bergführer schauen immer wieder auf ihr GPS, dann winken sie uns heran. »Den nächsten Hang einzeln befahren«, sagt Moses. Wir haben gelernt, was das heißt: Lawinengefahr. Die Schneedecke soll nicht zu stark belastet werden. Moses quert den Hang, am anderen Ende macht er einige Schwünge bergabwärts, bleibt dann stehen, um auf uns zu warten. Als ich an der Reihe bin, zieht ein dichter Nebelschwaden in den Hang. Ich kann kaum die Spur vor mir erkennen. Eher stürzend als fahrend, komme ich den Hang hinunter. Dann ein Schrei. Jolanda hat es wieder zu Boden gerissen. Als wir uns bei dieser Tour angemeldet haben, wussten wir, dass es anstrengend wird und vielleicht auch ein bisschen gefährlich. Aber so hat das sich wohl niemand vorgestellt. Weiter unten entspannen wir uns, der Wind lässt nach und hört sich freundlicher an. Kein Peitschen mehr, sondern ein sanftes Rascheln. Ich schaue mich um – zwischen den Fichten stehen Laubbäume, wohl Bergahorn, mit verwelkten Blättern. Die gab es im Kleinwalsertal nicht, wir sind im Bregenzer Wald angekommen. Sanft laufen die Hänge aus bis nach Schönenbach. Den heiklen Teil des Tages haben wir hinter uns. Als Andreas, der »Teammanager«, uns in Empfang nimmt, sind wir keine Skiwanderer mehr, sondern ganz gewöhnliche Touristen. Unser Gepäck ist bereits im Hotel. Andreas vereinbart einen Massage-Termin für Jolanda; mein Smartphone ist feucht geworden und funktioniert nicht mehr – er verspricht, Ersatz zu besorgen. Hat schon was für sich, diese Skitour light, denke ich, als ich in mein Bett falle. Die richtigen Tourengeher schultern ihr Gepäck selbst, sie übernachten in Hütten und quälen sich über die Berge ins nächste Tal. Wir nehmen am Morgen den Skibus in Richtung Warth und Schröcken – schon wieder bedeckter Himmel. Sollen wir bis zur Schweizer Grenze im Nebel stochern? An der Talstation des Sessellifts Salober wird die Gruppe wieder aufgeteilt – ich komme zu den Fortgeschrittenen! Im Sessellift sehen wir, wie die ersten Sonnenstrahlen durch den Nebel brechen. Als wir nach einer Abfahrt im Skigebiet von Warth in der neuen Verbindungsbahn nach Lech sitzen, scheint schon die Sonne. Blauer Himmel, ein Panorama mit Dutzenden Gipfeln vom Mohnenfluh bis zur Valluga, vierzig Zentimeter Neuschnee. »Fotos könnt ihr später machen«, sagt Moses. »Bei solchen Bedingungen muss man fahren, fahren, fahren!« Dann stößt er sich ab, es staubt hinter ihm, und seine Skier zeichnen eine Linie in den Schnee, eine S-Form nach der anderen. Wir warten, keiner traut sich, als Nächstes zu fahren, aus Angst, diesen Hang mit einem Sturz zu schänden, aber auch, weil uns der gestrige Tag noch in den Knochen steckt. Einer muss ja. Ich fahre los, meine Skier verschwinden im weißen Pulver, ich werde schneller, dann die ersten Schwünge. Ein halber Meter Neuschnee staubt unter meinen Skiern weg. Ich fliege, ich tanze, ich jauchze. Das ist die Belohnung für gestern, dafür habe ich gerne im Schneesturm gesteckt. Doch um die Mittagszeit werden der Schnee und meine Beine schwerer. Ein Steilhang, eine verunglückte Linkskurve, und ich verliere die Kontrolle. Nach zwei Purzelbäumen brülle ich: »Stopp, Skiverlust!« Nur Christian aus dem Salzburger Land, ein sehr guter Skifahrer, ist noch hinter mir. Er kann gerade noch anhalten, um zu suchen. Er führt seinen Skistock durch den Schnee. Fünf Minuten, zehn Minuten. Eine gebügelte Piste kommt man zur Not auch auf dem Hintern runter. Im Tiefschnee ist man ohne Skier verloren. Was tun? Plötzlich ein Klacken. Christian schlägt mit dem Skistock auf Metall, mein Ski. Glück gehabt. Am nächsten Morgen heißt es dann: Nebel und Lawinengefahr erheblich. Der Neuschnee der vergangenen Tage droht abzurutschen. Und wir müssen unsere Pläne ändern. Ursprünglich wollten wir über den Berg von Zürs nach Stuben fahren, jetzt nehmen wir den Bus zum Sonnenkopf. Erst am Nachmittag erlaubt das Wetter einen Aufstieg. Mit Steigfellen ziehen wir unsere Spur durch die karge Unwirklichkeit, die sich über der Baumgrenze auftut. Einzelne Felsnasen, dazwischen türmt sich in meterhohen Dünen der Schnee. Stille, die Sonne scheint durch einen Nebelvorhang und taucht uns in milchiges Licht. Der Weg ins Silbertal, ein Seitental des Montafon, wird langsam steiler. »Hinter der nächsten Ecke kommt der Gipfel«, sagt Heli, obwohl das natürlich nicht stimmt. Dankbar für diese kleine Motivationslüge folgen wir bis aufs Muttjöchle, 2074 Meter. Der Wind bläst, die Sonne schafft es kaum noch, durch den Nebel zu dringen. Ein Foto, dann ist es höchste Zeit für die Abfahrt. Dass immer alles so schnell gehen muss! »Das ist so in den Bergen«, sagt Heli. »Oder wollt ihr im Dunkeln abfahren?« Bald kommen wir in einen Fichtenwald. Moses fährt eine Spur in den Tiefschnee, der Rest der Gruppe folgt in ihr – und wird dabei sehr schnell. Ich ziehe zweimal die Körperbremse (Hosenboden), um eine Kollision mit einer Fichte zu verhindern. »Passt auf die Bäume auf – die stehen unter Naturschutz«, sagt Moses. Um 17.15 Uhr, kurz vor Einbruch der Dunkelheit, erreichen wir mit glühenden Oberschenkeln das Tal. Im Bus nach Schruns, wo wir übernachten werden, lächeln wir uns an, stumm und zufrieden. Ist es nicht das, was einem als Pistenfahrer manchmal fehlt? Das wohlige Gefühl, an seine Grenzen gegangen zu sein, der Rausch, der sich nach einer totalen Verausgabung einstellt? Tanzen und leiden, schweben und stürzen, wieder aufstehen und mit Lungen voller Frischluft durch eine wild gezackte Bergwelt fliegen – von mir aus könnte es so weitergehen. Am letzten Tag wechseln wir über das Skigebiet Silvretta Montafon nach Gargellen direkt an der Schweizer Grenze. Dort lege ich mich noch einmal so richtig auf die Nase. Diesmal gräbt Moses nach dem Ski, der ein paar Meter hinter mir im Schnee stecken geblieben ist. Am Nachmittag letzte Abfahrt. Unten wartet der Teammanager mit Jagatee. Umarmungen, Glückwünsche der Bergführer. Wir können gar nicht glauben, dass jetzt alles vorbei sein soll. |