Der Sound der Blauen Berge
Frankfurter Rundschau 17.03.07
Tennessee entdeckt den Bluegrass wieder. Eine Reise zu den Ursprüngen der Country-Musik.

Teil 1 Teil 2

Es ist 23 Uhr, als das "Renaissance", ein Vier-Sterne-Hotel im Zentrum von Nashville, kapituliert. Neben einer Couch im Foyer knien zwei junge Männer mit Geigen, die ein ekstatisches Duett fiedeln. Zehn Meter weiter, direkt neben einem Schild mit der Aufschrift "No Jamming Area", stehen acht Leute zusammen, darunter eine Familie mit vier jugendlichen Kindern, alle spielen Instrumente: Bass, Banjo, Gitarre und Mandoline.
Etwa 20 Musikergruppen jammen in den verschiedenen Ecken der Lobby. Wenn man nicht unmittelbar neben einer von ihnen steht, verschwimmt die Musik zu einem dissonanten Brei.
Durch den Hoteleingang kommen ständig neue Menschen mit Instrumenten-koffern, die wenigsten haben hier ein Zimmer gebucht. Auf dem roten Teppichboden mit den wappenartigen Ornamenten sitzen jugendliche Zuhörer mit großen McDonald's-Bechern in den Händen. Viele qualmen, trotz Rauchverbots. "Es ist nicht zum Aushalten", sagt ein Page in Uniform.
Wir sind in Nashville, Hauptstadt des US-Bundesstaates Tennessee, 600 000 Einwohner, genannt "Music City". 180 Aufnahmestudios gibt es hier, 130 Musikverlage, tausende Musiker, die auf den großen Durchbruch warten. Der Umsatz von Nashvilles Musik-Industrie beträgt im Jahr 6,38 Milliarden US-Dollar. Der Rummel im "Renaissance" gehört dazu: Im Hotel findet der jährliche Kongress "World of Bluegrass" statt, eine Verkaufsmesse für Musikerbedarf, eine Talentbörse, ein Ort, wo sich die Szene trifft, jammt und feiert.
Bluegrass, das ist eine ursprüngliche Form der Country-Musik, rein akustisch, Banjo, Bass, Gitarre, Dobro (eine Gitarre mit einer im Korpus eingebauten Resonanz-Membran), Mandoline, mehrstimmiger Gesang. Und Bluegrass, diese Rückbesinnung auf die Wurzeln der Country-Musik nach Jahrzehnten, in denen weichgespülte Varianten à la Garth Brooks das Bild der Szene bestimmten, gewinnt mehr und mehr Fans, begeistert nicht nur die Hillbillies, die Hinterwäldler aus den Bergen, sondern auch die urbane Jugend.
Gespräch mit den Kids, die auf dem Teppichboden sitzen und zuhören. Marc, 19, wuschelige, braune Haare, Kapuzenpulli, Typ Skater: "Wir sind die Pop-Klone leid, wir wollen echte Musik." Nate, 19, rotblonder Pilzkopf, College-T-Shirt: "Die Leute hier können wirklich was an ihren Instrumenten, das ist etwas anderes als Britney Spears." Ihr Freund Scott bringt Bier - er ist der Einzige, der schon 21 ist und Alkohol kaufen darf. "Hey, ich habe Eintrittskarten besorgt - ich musste dafür mit einem hässlichen Mädchen flirten, also seid dankbar", sagt er.
Die Jugendlichen machen sich auf den Weg ins benachbarte Kongress-Zentrum. Auf zwei Stockwerken treten hier Bluegrass- Bands auf, 400 in sieben Tagen. Die Konzerte finden in Tagungssälen statt, die den Charme der 70er Jahre versprühen, grelles Licht, Betonwände, grauer Teppichboden, Sitzreihen. In einem Raum mit 60 Plätzen sitzen acht Zuschauer, vorne steht die fünfköpfige Band, vier junge Männer in Hemden, in der Mitte eine Frau Mitte 20, Lederjacke. Sie spielt Mandoline. Der Junge am Banjo beginnt zu singen, sie setzt mit der zweiten Stimme ein - und die ganze Band lächelt selig in den leeren Raum.
An einer Bar vor dem Saal steht Jon Lohman, Mitte 30, blondes Haar und gerötetes Gesicht, Direktor des "Virginia Folklife Program", einer Organisation, die sich um die Bewahrung des kulturellen Erbes in Virginia bemüht. "Kommerzpop, Shopping Malls, Fastfood-Ketten - wir Amerikaner haben den ganzen Scheiß erfunden, der dafür sorgt, dass es überall auf der Welt gleich ist", sagt er, "jetzt sehnen wir uns nach etwas Echtem."
Stadtrundgang durch die "Music City" am nächsten Tag. 150 Meter vom Hotel entfernt liegt das Amüsierviertel. Auf dem Broadway zwischen 5th und 1st Avenue reihen sich dreistöckige Backsteinhäuser aneinander. Im Erdgeschoss sind Bars und die Geschäfte, in denen Cowboyhüte, Stiefel und Souvenirs verkauft werden. Die Obergeschosse stehen meist leer oder dienen als Lager, in den Seitenstraßen verfallen Häuser aus dem 19. Jahrhundert. Downtown Nashville hat den Charme des heruntergekommenen, besonders am Tage.
Für eine Handvoll Trinkgeld
Einkehr im "Legends Corner", einer der Musikkneipen auf dem Broadway mittags um drei. Die Wände sind mit alten LP-Covern tapeziert, Gitarren und Saxophone hängen dort, wo die Besucher nicht drankommen. 25 Leute sitzen an der Bar und an Tischen, für zehnmal so viele Besucher wäre Platz. Auf der Bühne singt ein schnauzbärtiger Mittvierziger mit Cowboyhut "I'm gonna love you forever…" Verhaltener Applaus, nachdem er das Lied beendet hat. "Besonders liebe ich es, wenn ihr mir euer Geld gebt!" Einige Zuschauer lachen. Skip Towne, so heißt der Sänger, reicht einen Kübel fürs Trinkgeld herum. Musiker in Nashvilles Kneipen bekommen selten eine Gage, es gibt so viele, dass die meisten glücklich sind, wenn sie für Trinkgeld spielen können. Towne nimmt es mit Humor. Eine Frau geht nach vorne, um eine CD des Musikers zu kaufen. "Darf ich ein Foto von Ihnen machen, Sie sind die Erste, die jemals eine CD von mir gekauft hat", sagt er. Er lacht über seinen Witz, die Zuschauer auch. Nach dem Konzert sagt er an der Bar: "Die meisten Leute, die nach Nashville gehen, machen den Fehler, ganz groß rauskommen zu wollen - ich bin mit dem zufrieden, was ich habe. Ich kann von der Musik leben." Er zeigt stolz das Geldbündel, wohl an die 100 Dollar, das er sich in zwei Stunden erspielt hat.
50 Meter entfernt vom "Legends Corner" steht das Ryman-Auditorium, ein Backsteingebäude, Ende des 19. Jahrhunderts als Kirche gebaut. Zwischen 1943 und 1974 wurde von hier aus die legendäre Country-Musik-Sendung "Grand Ole Opry", die älteste Radioshow der USA, übertragen. Das Ryman gilt als eine Geburtsstätte der Country-Musik. Der 34-jährige Bill Monroe trat im Dezember 1945 erstmals mit seiner Band "Bill Monroe and his Blue Grass Boys" hier auf. Das Publikum war begeistert von der Country-Musik, die mit Gospel-, Blues- und Swing-Elementen angereichert war. Bluegrass war bis Anfang der 60er Jahre die populärste Stilrichtung des Country, dann kam der glattere, elektrisch verstärkte Nashville Sound
Drinnen im Ryman-Auditorium sieht es noch genauso aus wie in den 40er Jahren. Tageslicht fällt durch rote, blaue und grüne Scheiben auf die dunklen Kirchenbänke, die Platz für 2362 Menschen bieten. Die Dielen knarzen, es riecht nach altem Holz. Auf der Bühne stehen zwei Western-Gitarren und ein Mikrophon. Ein Mann und eine Frau, beide um die 60, halten sich die Gitarren vor den Bauch und lassen sich für fünf Dollar fotografieren. In den 70er Jahren zog die Institution "Grand Ole Opry" in einen Betonklotz außerhalb der Stadt. 20 Jahre stand das Ryman-Auditorium leer, bis man es 1994 renovierte. Seitdem ist es wieder ein beliebter Veranstaltungsort, Bluegrass-Größen spielen hier regelmäßig.

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