Robert Enke
»Alles hat seinen Sinn«
Frankfurter Rundschau 24.12.08
Nationaltorhüter Robert Enke (†) über schwere Schicksalsschläge, ungewöhniliche Karriereschritte, seine Liebe zu Portugal und die früheren Nationalkeeper Jens Lehmann und Oliver Kahn

Herr Enke, kurz vor Ihrem wichtigsten Spiel in der deutschen Nationalmannschaft, haben Sie sich schwer verletzt. Wie haben Sie reagiert, als Sie erfahren haben, dass Sie statt endlich Deutschlands erster Torhüter zu sein, monatelang würden pausieren müssen?

Ich habe meine Frau angerufen und ihr gesagt, dass ich mir das Kahnbein gebrochen habe. Ich war relativ gefasst, ich weiß auch nicht warum. Die Leute in meiner Umgebung fanden das dramatischer. „Gerade vor dem wichtigen Länderspiel, was für ein ungünstiger Zeitpunkt“, haben viele gesagt. Aber wenn ich mich einen Monat vorher verletzt hätte, dann wäre es genauso großer Mist gewesen.

Tut es gut oder nervt es von ganz Deutschland bemitleidet zu werden?

Ich hatte kurz danach viele Gästebucheinträge auf meiner Homepage enke1.de und habe auch viele Briefe bekommen. Es ist schön, wenn mir Menschen mitteilen, dass ihnen leid tut, dass ich mich verletzt habe. Aber im Alltag kommt das nicht so oft vor. Die Leute scheinen zu wissen, dass ich nicht ständig bemitleidet werden möchte.

Sie haben sich das Kahnbein gebrochen, als Sie im Training einen Schuss abgewehrt haben – machen Sie sich Vorwürfe, etwas falsch gemacht zu haben?

Ich kann mir bis heute nicht erklären, wie es zu der Verletzung gekommen ist. Ich bin mit der Hand zum Ball gegangen, wie schon 100 000 Mal in meiner Karriere. Und weil das eine Aktion war, bei der so etwas eigentlich gar nicht passieren kann, glaube ich, dass das passieren sollte.

Sie glauben an Schicksal?

Schicksal ist mir ein zu großes Wort dafür. Ich glaube, dass alles seinen Sinn hat. Im Moment ist es für mich natürlich schwierig nachzuvollziehen, was an diesem Kahnbeinbruch positiv sein soll. Aber vielleicht denke ich in ein paar Monaten: Die Verletzung hat dich dies und das gelehrt. Das ist nicht zufällig passiert.

Glauben Sie an Gott?

Ich bin nicht gläubig, aber ich glaube schon…schöner Satz. Ich weiß nicht, ob jemand das Leben lenkt. Aber so viel weiß ich: Man kann es nicht ändern. Man muss sich mit so einer Verletzung abfinden, man muss sich damit abfinden, wenn man ein Spiel verliert und man muss sich damit abfinden, wenn man ein Kind bekommt, das schwer krank ist und stirbt.

Ihre Tochter ist vor zwei Jahren gestorben. Haben Sie manchmal das Gefühl, ein besonders hartes Schicksal zu haben?

Ich habe sehr viel mitgemacht, beruflich und privat. Aber deshalb würde ich mich nicht als Pechvogel bezeichnen. Es gab Phasen in meinem Leben, in denen alles von alleine gelaufen ist, in denen meine Frau und ich glücklich und unbeschwert waren. Da konnten wir Kraft tanken für die schwierigen Zeiten, die dann kamen. Mit unserer herzkranken Tochter waren wir zwei Jahre ständig im Krankenhaus, wir mussten ihren Tod erleben und verarbeiten.

Sie haben sich den Namen Ihrer verstorbenen Tochter aufs Handgelenk tätowieren lassen…

Das ist richtig. Meine Frau hat das kurz nach Laras Tod machen lassen. Ich habe mir Zeit gelassen, weil ich mir damals nicht sicher war, ob ich das wollte. Nach anderthalb Jahren war ich auch so weit. Ich finde es schön zu wissen, dass der Name meiner Tochter immer bei mir sein wird. Wir haben viele Bilder bei uns in der Wohnung von ihr, wir reden oft über sie, ohne gleich in Tränen auszubrechen. Es gab zwar sehr schwierige Momente, aber das letzte halbe Jahr mit Lara war sehr schön. Da hat sie große Fortschritte gemacht. Ich denke oft an sie und rede von ihr, einfach, weil sie ein tolles Kind war.

Haben Sie sich durch die Krankheit und den Tod Ihrer Tochter verändert?

Meine Prioritäten haben sich verschoben. Früher habe ich mich vor allem über den Fußball definiert. Ein Fehler im Spiel hat mich die ganze Woche beschäftigt. Seit meine Tochter geboren wurde, hake ich Fehler nach zwei bis drei Tagen ab. Es wiederholt sich alles im Profifußball. Es gibt Tage, an denen man sehr gelobt wird, dann ist man der tollste Typ. Und kurze Zeit später wird man sehr hart kritisiert, da ist auf einmal gar nichts mehr gut. Das ist unfair manchmal, aber ich habe mich daran gewöhnt.

Über welchen Sportreportersatz ärgern Sie sich am meisten?

Wenn ein Tor fällt – und der Kommentator sagt: „Da sieht der Torwart nicht glücklich aus.“ Ich würde gerne mal das Tor sehen, bei dem der Torhüter glücklich aussieht.

Passiert es häufig, dass Tore den Torhütern angelastet werden, obwohl die keinen Fehler gemacht haben?

Oft werden die Begleitumstände ausgeblendet. Wenn ein Torhüter sagt, er musste gegen die Sonne gucken oder der Ball sei geflattert, gilt das als billige Ausrede. Dabei sind das wichtige Faktoren. Es gibt Schüsse, bei denen kommt der Ball gerade angeflogen und ein paar Meter vor dir verändert er seine Richtung um ein bis zwei Meter - als ob er abgefälscht worden wäre. Das passiert dann, wenn er ganz gerade getroffen wurde und sich nicht um die eigne Achse dreht. Auch die Oberfläche von den Bällen ist sehr unterschiedlich, einige sind glatter als andere, das macht einen großen Unterschied beim Fangen.

Hört sich nach Wissenschaft an.

Es glauben alle, vom Torwartspiel Ahnung zu haben. Aber 95 Prozent der Leute, die über Torhüter urteilen, haben kein spezifisches Fachwissen über den Beruf, weil sie eben nie im Tor gestanden haben. Ich weiß, wenn ich einen Fehler gemacht habe, ich weiß, wenn ich richtig gut gehalten habe – und ich weiß auch, wenn ich einen Ball abgewehrt habe, bei dem alle von einer tollen Parade schwärmen, den ich aber erwischen musste.

Wenn Sie eine spektakuläre Flugeinlage machen?

Ich mache keine Flugeinlage, die nicht nötig ist. Das machen andere. Es ist aber so, dass ein Torhüter, der einen Ball über die Latte lenkt und sich dann spektakulär hinwirft, meist bessere Noten bekommt, als derjenige, der ihn sicher fängt.

Welche Charaktereigenschaft braucht ein guter Torwart?

Jeder Torhüter macht mal einen Fehler, aber man muss in der Lage sein, den sofort abzuhaken. Während des Spiels muss man weiter ein guter Rückhalt sein für die Mannschaft. Das ist die Kunst eines guten Torhüters.

Toni Schumacher, Uli Stein, Oliver Kahn - es gab Zeiten, da wirkte es so, als ob zum Torwartberuf auch zwangsläufig exzentrisches Auftreten und große Sprüche gehörten. Sie wirken dagegen sehr besonnen…

Das sind alles Torhüter, die nicht mehr aktiv sind. In der Bundesliga spielt doch heute keiner mehr, der im positiven oder negativen Sinn bekloppt ist. Das Klischee trifft nicht mehr zu.

Die letzten Jahre in der Nationalmannschaft waren geprägt von Oliver Kahn und Jens Lehmann, die sehr vehement ihre Ansprüche angemeldet haben. Sie schmähen keine Konkurrenten und haben nie den Platz als Nummer Eins der Nationalelf gefordert: Sind Sie weniger ehrgeizig als Ihre beiden Vorgänger?

Es geht im Fußball darum, nie zufrieden zu sein. Wenn man nicht ehrgeizig ist, kann man nichts erreichen. Bei mir drückt sich das wohl anders aus, aber deshalb bin ich nicht weniger ehrgeizig als Olli Kahn oder Jens Lehmann.

Ist es möglich, dass Robert Enke eines Tages einen „Torwartkrieg“ gegen einen Kollegen in der Nationalmannschaft kämpft?

Ganz bestimmt nicht, mir ist es wichtig, dass man auch in einer Konkurrenzsituation kollegial miteinander umgeht.

In älteren Zeitungsartikeln kann man lesen, Sie seien zu sensibel, um ganz nach oben zu kommen und sie würden wohl kein Nationaltorhüter mehr – spüren Sie heute Genugtuung, wenn Sie so etwas hören?

Ich bin stolz darauf, mich nach meiner Zeit in Portugal, Spanien und der Türkei wieder zurück gekämpft zu haben in die Bundesliga und in den Kreis der Nationalmannschaft. Das war nicht einfach, das hätte wohl nicht jeder geschafft. Aber Genugtuung ist das falsche Wort. Was ein paar Sportjournalisten schreiben, nehme ich nicht mehr so wichtig.

Sie haben sich einst selbst in Vergessenheit gebracht in Deutschland, weil Sie schon mit 22 Jahren zu Benfica Lissabon gewechselt sind – warum sind Sie damals gegangen?

Jupp Heynckes, ein Weltklassetrainer, hat damals in Lissabon angefangen und wollte mich mitnehmen. Das war eine große Ehre für mich. Ich wollte unbedingt unter ihm arbeiten. Außerdem war es ein sehr lukratives Angebot, das will ich nicht leugnen.

Haben Sie diesen Schritt je bereut?

Nie. Was hätte es geändert, wenn ich in Deutschland geblieben wäre? Ich hätte jetzt wahrscheinlich 150 Bundesligaspiele mehr, aber ob ich früher eine Chance in der Nationalmannschaft bekommen hätte, weiß kein Mensch. Es wäre sehr schwer gewesen, an Kahn und Lehmann vorbei zu kommen. Was ich in meiner Zeit im Ausland gelernt habe, möchte ich nie und nimmer für fünf Jahre Bundesliga hergeben wollen. Ich bin mit 21 nach Lissabon geflogen und musste mich dort zu Recht finden. Ich habe das erste Mal Portugiesisch gehört – ich dachte, das lerne ich nie. Heute kann ich mich mit Portugiesen und Brasilianern unterhalten, Spanisch spreche ich nach meiner Zeit in Barcelona auch. Ich weiß, dass ich im Ausland leben kann.

Mögen Sie lieber Flamenco oder Fado?

Kommt drauf an, wie ich gelaunt bin. Zum Feiern Flamenco. Um Fado zu hören, muss man schon ein bisschen melancholisch sein.

Sie hatten eher in Spanien die Fado-Stimmung?

Das kann man so sagen, in Lissabon war ja alles wunderbar. Drei Jahre habe ich gespielt, das letzte halbe Jahr war ich Kapitän. In Barcelona lief es dagegen sportlich überhaupt nicht – aber auch daraus lernt man.

Nach wenigen Fehlern wurden Sie beim FC Barcelona aus dem Kader verbannt, wechselten 2003 zu Fenerbahce Istanbul. Dort kündigten Sie nach dem ersten Spiel – warum?

Bei meinem ersten Punktspiel wurden Flaschen und Feuerzeuge auf mich geworfen – von den eigenen Fans. Ich wollte mich vor dem Fanatismus schützen. Ich wusste, ich würde meine beste Leistung unter diesen Umständen nie bringen können. Was blieb mir anders übrig, als zu gehen?

Mancher bewertete Ihr Verhalten damals als unprofessionell. Wie sehen Sie die Situation im Rückblick?

Klar haben einige gesagt: „Der Enke hat sie doch nicht mehr alle.“ Dass das ein ungewöhnlicher Schritt war, ist klar, aber ich bin auch kein 0815-Profi von denen es so viele gibt. Und unprofessionell war meine Entscheidung schon gar nicht. Ich hätte mich ein Jahr auf die Ersatzbank setzen können und hätte dabei richtig viel Geld verdient. Stattdessen habe ich meinen Vertrag ohne Kosten für den Verein aufgelöst und Fenerbahce die Möglichkeit gegeben, noch vor Ende der Transferperiode einen zweiten Torwart zu verpflichten. Ich habe mich dabei in eine Lage gebracht, die extrem schwierig war. Weil ich gerade zu Fenerbahce gewechselt war und schon ein Spiel gemacht hatte, durfte ich nach den FIFA-Regularien fünf Monate lang bei keinem anderen Verein spielen.

Sie haben eine Erfahrung gemacht, die für einen Nationalspieler ungewöhnlich ist: Sie waren arbeitslos.

Es war ein schlimmes Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden, zu sehen, dass nur Geld vom Konto abgeht und nichts mehr dazukommt. Auch wenn ich vorher gut verdient hatte – ich wusste ja nicht, ob ich noch mal einen Vertrag bekommen würde.

Es kommt nicht oft vor, dass jemand im Profifußball eine Schwäche zeigt wie Sie bei Ihrer Kündigung in Istanbul – hat man es schwer als sensibler Mensch in diesem Sport?

Ich sehe meine Entscheidung von damals eher als Zeichen von Stärke. Ich bin eben jemand, der reflektiert. Natürlich gibt es Spieler, die sich nicht so viele Gedanken machen. Die haben es vielleicht einfacher. Aber so will ich gar nicht sein. Das würde sich ja nicht nur auf den Fußball, sondern auf das ganze Leben beziehen. Ich bin wie ich bin und ich habe in jeder Phase meiner Karriere ungewöhnliche Entscheidungen getroffen. Dazu gehören auch meine Vertragsverlängerungen bei Hannover 96.

Sie sind ein Weltklassetorwart – warum spielen Sie noch bei diesem Mittelklasse-Verein?

Ich fühle mich hier sehr wohl, habe ein gutes Standing bei den Fans. Gerade eben habe ich mich im Zug mit drei Fans unterhalten…

Sie kommen mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum Training?

Ja, öfter. Meine Frau und ich wohnen ja in einem Dorf außerhalb der Stadt. Wenn sie später in die Stadt kommt und wir wollen keine zwei Autos in der Stadt haben, fahre ich mit der Regionalbahn, das klappt ganz gut.

Waren die Fans nicht überrascht, Sie dort zu treffen?

Doch, die konnten nicht glauben, dass ich mit dem Zug fahre. Die drei arbeiten als Ordner bei uns im Stadion. Sie haben mir erzählt, dass sie sich am Anfang für den Innenraum beworben haben, weil sie möglichst dicht am Spielfeld sein wollten – aber da mussten sie die ganze Zeit in die Fankurve gucken und bekamen gar nichts vom Spiel mit. Jetzt sind sie für die Tribüne eingeteilt. Da können sie das Spiel anschauen.

Trotz ihres guten Verhältnisses zu den Fans: Viele Experten haben sich gewundert, dass Sie 2006 bei Hannover verlängerten, obwohl Angebote von besseren Clubs vorgelegen hatten.

Bei dem, was meine Frau und ich mitgemacht haben, lernt man zu schätzen, was man hat. Als ich den Vertrag verlängert habe, hatte ich außerdem das Gefühl, dass wir sportlich immer besser werden. Die letzte Saison hat mich darin bestätigt, in diesem Jahr sieht es leider nicht ganz so gut aus.

Ihr Vertrag läuft noch bis 2010 - wie lange bleiben Sie noch in Hannover?

Das weiß ich noch nicht.

Gibt es einen Verein, der Sie noch reizen würde?

Ich würde noch mal gerne bei Benfica Lissabon spielen, aber erst zum Ende meiner Karriere. Die Zeit in Portugal war die schönste und unbeschwerteste in meinem Leben. Meine Frau und ich haben ein Haus da. Die Leute kennen mich noch und sprechen mich an. Lissabon ist unser zweites Zuhause und es wäre schön, wenn ich dort noch mal spielen könnte. Aber vorher würde ich noch gerne in Deutschland einen Titel gewinnen.

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