»Jeder Chirurg trägt einen kleinen Friedhof in sich«
Das Magazin 13.06.2015
Neurochirurg Henry Marsh spricht über seine fatalen Behandlungsfehler, die Musik, die zum Zunähen einer Kopfhaut passt, und über nicht menschliche Fundstücke im Gehirn.

Mr. Marsh, wenn Sie einen Schädel öffnen - wie sieht das Gehirn eines lebendigen Menschen aus?

Meistens sehe ich es durch ein Operationsmikroskop, ein Gerät, dass ich aufrichtig liebe. Ich bin so gewohnt, es zu benutzen, dass sich anfühlt, wie ein Teil von mir. Ich habe nie Computer gespielt, aber das Operationsmikroskop erschafft sowas wie eine virtuelle Realität. Man hat das Gefühl, im Gehirn zu sein, durch Gänge ans Ziel zu kriechen.

Was sehen Sie dort?

In seinem Inneren ist das Gehirn nicht besonders interessant, es sieht aus wie weißes Gelee. Aber wenn man zum Beispiel unter dem Gehirn ist, dann blickt man auf schimmernde, tiefblaue Hirnvenen, ein Geflecht das wirkt, wie das Dach einer Kathedrale.

Ist es ein erhabener Augenblick, wenn in das Organ schaut, in dem unser Bewusstsein entsteht?

Man gewöhnt sich dran. Wenn man ein Gehirn anschaut, lernt man nichts darüber, was wichtig ist im Leben. Aber als Arzt, der mit Gehirnproblemen zu tun hat, erkennt man – was wir denken und fühlen ist Elektrochemie.

Ist es ein erhabener Augenblick, wenn in das Organ schaut, in dem unser Bewusstsein entsteht?

Man gewöhnt sich dran. Wenn man ein Gehirn anschaut, lernt man nichts darüber, was wichtig ist im Leben. Aber als Arzt, der mit Gehirnproblemen zu tun hat, erkennt man – was wir denken und fühlen ist Elektrochemie.

Sie benutzen den Vergleich mit der Kathedrale – lässt sie der Anblick des Gehirns nicht an etwas glauben, das über die bloße Biologie hinaus geht?

Nein, die Kenntnis der Hirnanatomie zerstört den Glauben komplett! Wenn Teile des Gehirns, insbesondere in der Front, zerstört werden, gehen auch unsere sozialen Fähigkeiten und unsere Moralvorstellungen zugrunde. Wir sind, was unser Gehirn ist – und wenn unser Gehirn stirbt, sterben wir.

Ein US-Mediziner wog einmal Menschen vor und nach dem Tod und wollte fest gestellt haben, dass die entweichende Seele 21 Gramm wöge …

Eine dermaßen tumbe und Vorstellung muss man nicht weiter kommentieren. Sie ist natürlich längst widerlegt. Die unsterbliche Seele ist höchst unwahrscheinlich. Bewusstsein und Empfindungen fühlen sich zwar für uns nicht wie Elektrochemie an. Aber die Neurowissenschaft sagt uns, dass sie nichts anders sind.

Liebe, Hass, Hoffnung – alles nur Materie?

Nicht «nur»! Dieses Wissen nimmt uns zwar den Glauben an ein Leben nach dem Tod. Aber es wertet die Materie auf. Denn die Wissenschaft kann nicht ansatzweise erklären, wie Bewusstsein entsteht. Wir wissen es einfach nicht. Das heißt nicht, dass ich an etwas Mystisches glaube, es heißt nur, dass wir Materie noch nicht komplett verstehen. Wenn man sich die Quantenmechanik anschaut, dann ist die Welt auf dem Quantenlevel wirklich seltsam und verrückt.

Auf einem sozialen Level auch gelegentlich …

Ja, aber das ist ein bisschen mehr auf der Makroebene. Wenn man dagegen irgendwas aus der Neurowissenschaft mitnehmen kann, dann wie wenig wir wirklich wissen. Je mehr Türen wir öffnen, desto mehr Fragen, tun sich auf. Weil es so kompliziert ist und weil die Forschung durch Experimente weiter kommt. Diese aber kann man mit Menschen selbstverständlich nicht machen. Die einzigen Möglichkeit sind: Man kann sich erstens anschauen, wie Menschen reagieren, bei denen bestimmt Hirnregionen zerstört wurden. Zweitens kann man untersuchen, was mit Epilepsie-Patienten passiert, bei denen verschiedene Hirnareale elektrisch stimuliert werden.

Erstaunlicherweise kann das Gehirn keinen Schmerz empfinden – warum?

Das Gehirn kann nicht wehtun, weil es keine Schmerzrezeptoren hat. Wenn man Schmerz im Gehirn spüren wollte, bräuchte man ein anders Gehirn irgendwo, das diesen Schmerz spüren könnte.

Können Sie das genauer erklären?

Je mehr man über Schmerz nachdenkt, desto seltsamer ist er. Wenn ich mir in den Finger kneife – dann ist der Schmerz nicht im Finger. Er entsteht erst im Gehirn. Wir verbinden die Serie der elektrischen Impulse, die vom Finger zum Gehirn gehen, nur mit unserem Finger. Wir denken, dass der Schmerz im Finger ist, aber das stimmt nicht. Es gibt ein berühmtes Experiment, in dem das für jeden Menschen nachvollziehbar gezeigt wurde.

Wie funktioniert es?

Der Proband wird angehalten, zum Beispiel die rechte Hand auf den Tisch zu legen. Die linke dagegen platziert er unterhalb, so dass er sie nicht sehen kann. An ihrer statt wird neben die rechte Hand eine Gummiattrappe auf den Tisch gelegt. Dann werden die Hand, die unter dem Tisch ist und die Gummihand gleichzeitig mit einem Pinsel gestreichelt. Das Überraschende ist: Die meisten Versuchsteilnehmer haben nach wenigen Minuten das Gefühl, dass sie die Pinselstriche mit der Gummihand spüren, dass diese Attrappe zu ihnen gehört. Das Gehirn erfindet keine Realität, aber es täuscht uns.

Sie operieren ohne Betäubung am Gehirn, warum?

Das Gehirn hat keinen aufgemalten Plan auf dem, wie auf einem Schnittmuster, dort Scheren eingezeichnet sind, wo man schneiden kann. Wie der Patient reagiert, ist der beste Guide beim Operieren. Man merkt direkt, wenn man im Begriff ist, etwas wichtiges zu schädigen und kann dann an der Stelle sofort aufhören.

Dass Sie ohne Betäubung am Gehirn rumschneiden, klingt trotzdem nach Horror-Film …

Ich habe das Verfahren vor 30 Jahre in Europa eingeführt, jetzt ist es Standard. Der Patient bekommt natürlich ein Beruhigungsmittel und die Haut am Kopf wird betäubt - aber die meisten kommen dann mit dem Eingriff gut klar. Ich habe hunderte Male so operiert und nur zweimal waren Patienten so ängstlich, dass wir abbrechen mussten.

Wie sieht es in Ihrem Gehirn aus: Gibt es darin Bilder von schlimmen Operationen, die Sie nicht vergessen?

Ich zitiere am Anfang des Buchs den französischen Chirurgen René Leriche, der gesagt hat: »Jeder Chirurg trägt einen kleinen Friedhof in sich.« Das ist ein Ort, an den man von Zeit zu Zeit gehen muss.

Fühlen Sie sich schuldig wegen Ihrer Fehler?

Wenn ich Fehler gemacht habe, spürte ich große Angst. Ich habe nie den Unterschied zwischen Schuld und Angst verstanden. Es sind sehr ähnlich Gefühle.

Haben Sie je geweint wegen eines Fehlers?

Wenn ich alleine war, ja.

Erinnern Sie sich an die Situation?

Als ich noch Assistenzarzt war, operierte ich ein Mädchen im Teenageralter, ein sehr komplizierter Tumor. Sie überlebte, aber sehr geschädigt. Es hat mich fertig gemacht.

Was genau ist passiert?

Das möchte ich nicht sagen. Es schmerzt zu sehr. Ich habe geweint, für mich alleine. Wissen Sie, wenn man so eine Arbeit macht, muss man eine Balance finden, zwischen Liebenswürdigkeit und professionellem Abstand. Ich habe wie wohl jeder Chirurg Phasen tiefster Verzweiflung erlebt.

Im Buch beschreiben Sie eine Szene, in der Sie diesen Abstand verloren haben …

Ja, ich hatte einen Patienten, eine junger Familienvater, der ein guter Freund geworden war. Er hatte einen Tumor, ich habe ihn entfernt. Zehn Jahre habe ich den Mann danach als Arzt betreut. Aber es war immer klar, dass dieser Tumor bösartig zurückkommen würde. Das war schließlich der Fall – ich hatte dem Patienten sagen müssen, dass er bald sterben würde, dass es keine Hoffnung mehr gab. Er vertraute mir und akzeptierte das. Er nahm es mit großer Würde hin. Ich wusste, ich hatte als Arzt das Richtige getan, in der Behandlung über all die Jahre genauso wie in diesem Gespräch. Als ich danach im Auto saß und nach Hause fuhr, weinte ich. Nicht wegen Schuldgefühlen, sondern weil es diesen Mann so früh treffen musste.

Ist er gestorben?

Wenige Wochen später war er tot.

Fällt es Ihnen schwer, über den Fall des Lehrers zu sprechen, den Sie im Buch beschreiben?

Nein, ich habe darüber geschrieben und die Tochter hat sich inzwischen bei mir gemeldet und mir vergeben, das ist einfacher.

Können Sie den Fall schildern?

Ich war seit vier Jahren Oberarzt, ein Lehrer Ende 50 kam in meine Sprechstunde. Ein Neurologe hatte ihn zu mir überwiesen. Auf dem Röntgenbild war ein riesiger, gutartiger Tumor zu sehen, der aus der Schädelbasis des Patienten hervorwuchs.

Dieser gutartige Tumor war gefährlich?

Er war so groß, dass sich die Nerven für Empfindungen im Gesicht, für Sprechen und Schlucken bereits über seine unheilvolle bucklige Masse spannten. Es war klar, dass der Mann mit diesem Tumor nicht mehr lange würde leben können, denn er wuchs, wenn auch langsam, weiter. Andererseits barg auch die Entfernung der Geschwulst große Gefahren. Ich klärte den Mann und seine Angehörigen auf. Ich war unsicher, ob ich operieren sollte.

Dann haben Sie sich dafür entschieden – warum?

Die Familie holte noch eine zwei Meinung ein, bei einem sehr bekannten Neurochirurgie-Professor. Als der den Patienten untersucht hatte rief er mich an und sagte: »Der Tumor muss raus, aber das ist eine Operation für einen jungen Mann, machen Sie es!« Ich fühlte mich so geehrt, dass ich die Operation ansetzte. Ich kaufte für die gesamte Abteilung Essen, packte Musik ein, die wir dann während des Eingriffs hörten.

Welche Musik passt gut zum Öffnen eines Schädels und Rausschneiden eines Tumors?

Ich hatte von Abba bis Bach, bis zu afrikanischer Musik alles eingepackt – es sollte eine sehr lange Operation werden. Meine Kollegen fanden meinen Musikgeschmack zum Teil seltsam, hatten sich aber damit arrangiert. Damals legte ich immer CDs auf beim Operieren. Besonders beliebt war die so genannte Schließmusik, Chuck Berry, B.B. King oder andere schnelle Rock- und Bluesmusik. Wir hörten sie, wenn wir den Kopf eines Patienten zunähten.

Wie verlief die Operation?

Die ersten 15 Stunden gut. An diesem Punkt, es war schon nach Mitternacht, hätte ich aufhören sollen. Aber ich wollte unbedingt den Tumor bis auf den letzten Rest entfernen. Ich sah schon vor mir, wie ich auf einer Tagung die Hirnscans von vor und nach der Operation zeigen würde – ein perfekter Eingriff. Als ich den letzten Teil herauslösen wollte, durchtrennte ich aber aus Versehen diejenige Schlagader, die den Hirnstamm am Leben hält. Ich wusste sofort, dass das eine Katastrophe war. Anstatt noch ein paar gute Monate zu leben, ist der Patient nie wieder aufgewacht. Sieben Jahre später sah ich ihn zusammengeknäult in einem Pflegeheim liegen. Ich kann es seitdem nicht mehr ertragen beim Operieren Musik zu hören.

Wie sehen Sie den Fehler heute?

Ich war jung und enthusiastisch – ich habe mich übernommen. Die Angehörigen und der Patient wollten unbedingt, dass ich operiere. Die Ehre, dass mich einer der erfahrensten Neurochirurgen Großbritanniens bat, die Operation zu übernehmen, hatte mich blind für ihre Gefahren gemacht. Der Kollege weckte den Ehrgeiz in mir, eine perfekte Operation zu machen - das Ergebnis war das Gegenteil.

Wie haben Sie das verarbeitet?

Ich wusste, der Patient wird geschädigt, vielleicht wird er nicht überleben – aber ich selbst lebe weiter. Und einer musste den Job ja machen. Wenn man als verantwortlicher Arzt sein erstes Desaster erlebt, ist das schrecklich. Aber mit den Jahren kommen mehr dazu und man lernt damit umzugehen. Andererseits ist es auch paradox - wenn man nichts Schwieriges operiert, dann lernt man nicht, was geht und was nicht. Man muss sich auch selbst herausfordern.

Auf Kosten der Patienten?

Es ist traurig, dass die Patienten unter unseren Fehlern leiden. Natürlich müssen wir versuchen, so wenige wie möglich zu machen. Das ist in der Hirnchirurgie besonders schwierig, denn sie ist sehr gefährlich und es geht oft etwas schief. Gerade junge Ärzte müssen aber ein bisschen blind sein für Probleme.

Für Patienten nicht gerade eine schöne Vorstellung …

Man kann keine gefährliche Arbeit machen, wenn man ständig über die Gefahren nachdenkt. Dazu muss man optimistisch sein. Man muss sich also selbst täuschen. Ohne Scheuklappen kann man kein Neurochirurg sein.

Aber Sie haben Ihre Fehler nicht vergessen.

Ich erinnere mich an einige Fälle, aber bestimmt habe ich auch viele vergessen. Es ist natürlich sehr wichtig, direkt nach einem Vorfall über Fehler nachzudenken. Es braucht eine Balance zwischen Optimismus und Selbstkritik. Ich habe große Triumpfe erlebt als Neurochirurg, schwierige Operationen, die geglückt sind, geheilte Patienten. Aber von Erfolgen lernt man nichts. Erfolg ist gefährlich, weil er uns selbstgefällig macht. Wir misstrauen uns nicht mehr und machen schlimme Fehler.

Welche Lektionen haben Sie gelernt aus dem geschilderten Fall?

In den folgenden Jahren habe ich solche Mega-Operationen abgelehnt. Ich machte mehrere Eingriffe hintereinander, ich operierte im Wechsel mit Kollegen, ich ließ Teile von Tumoren zurück, wenn die Gefahr zu groß war, durch das Herausschneiden etwas zu zerstören. Ich habe durch die misslungene Operation einiges an Unbeschwertheit eingebüßt, aber ich bin dadurch ein besserer Chirurg geworden.

Wenn Sie jungen Ärzten Ratschläge geben sollten – mit welchen Grundsätzen verhindert man Fehler?

Niemals Entscheidungen treffen, wenn man in Eile ist. Wenn man nicht weiß, was zu tun ist – mit Kollegen diskutieren. Sich nicht zu einer Entscheidung drängen lassen, hinter der man nicht steht. Alle Menschen haben schlechte Anteile, die muss jeder Arzt selbstkritisch bei sich analysieren. Ich fahre manchmal aus der Haut fahre und werde wütend – das bereue ich hinterher immer. Außerdem habe ich auch Fehler gemacht, weil ich dumm war, grob oder grausam. Daraus habe ich auch gelernt, aber ich möchte nicht darüber reden.

Warum tun sich die meisten Ärzte schwer, Fehler zuzugeben?

Weil es weh tut – und alle Menschen vermeiden schmerzhafte Wahrheiten.

Sie sprechen dagegen sehr offen über Ihre Fehler.

Die meisten Chirurgen haben Geschichten wie meine, aber es ist ungewöhnlich, offen darüber zu reden, das stimmt. Ich bekomme Briefe aus der ganzen Welt, die mich dazu beglückwünschen, so ehrlich zu sein. Heute leben wir in einer Zeit, in der wir Ärzte entmythologisieren. Der mündige Patient kennt seine Rechten, bildet sich im Internet. Zu dieser Entwicklung gehört aber auch, dass die Öffentlichkeit akzeptiert – Ärzte sind fehlbare Menschen, wie alle anderen auch.

Das ist schwierig, besonders, wenn man selbst der Patient ist.

Ich verstehe, dass man als Patient Angst hat, aber man muss akzeptieren, dass es Fehler gibt. Wenn ich einen Schädel öffne und am Gehirn operiere, kann so viel passieren, das nicht vorhersehbar ist. Es gibt immer große Unsicherheiten – man kann den Arzt nicht für alles verantwortlich machen, was schief geht.

Was ist der richtige Weg für Ärzte mit Fehlern umzugehen?

Zuerst sollte man ehrlich zu sich selbst sein. Wenn man sich nicht eingesteht, dass man einen Fehler gemacht hat, kann man nicht daraus lernen. Dann muss man es auf sich nehmen, dem Patienten oder der Familie zu sagen, was passiert ist.

Sie haben sogar Menschen geraten, Sie zu verklagen?

Ja, wenn ich mich wirklich für einen Fehler verantwortlich fühlte. Aber das macht man erst, wenn man große Erfahrung hat. Die meisten Ärzte raten nicht dazu, sie zu verklagen – und die Versicherung war auch nicht begeistert davon. Aber ich bin als erstes für meinen Patienten verantwortlich und nicht für die Versicherung, nicht für das Gesundheitssystem, nicht für die Regierung.

Wie haben ihre ehemaligen Patienten beziehungsweise deren Angehörige reagiert, die sich im Buch wieder fanden?

Ich habe Details verändert, um die Schweigepflicht zu wahren. Aber trotzdem haben sich viele wiedererkannt, zum Beispiel eine Tochter einer Frau, die ich operiert hatte und die danach schwer geschädigt war. Sie schrieb: »Wir wissen, dass die Operation damals ein Desaster war, aber wir hatten trotzdem eine hohe Meinung von Ihnen, Sie haben Ihr bestes gegeben.« Ich sei zu selbstkritisch, meinte sie – und das hat mich dann doch berührt und versöhnt.

Bei allen schweren Vorfällen und Entscheidungen – man gewinnt in ihrem Buch den Eindruck, dass es im Operationssaal zum Teil sehr lustig zugeht.

Oh ja, es gibt eine sehr gute Kameradschaft. Es wird viel gelacht. Ich erinnere mich an eine Operation noch bevor ich Neurochirurg wurde. Der Patient hatte einen Bruch in der Bauchdecke, den wir schließen wollten. Weil der Mann schon älter war und wir ihn nicht mit einer Vollnarkose belasten wollten, machten der Oberarzt und ich den Eingriff unter örtlicher Betäubung. Als wir also mit vier Händen an der Wunde arbeiten, tauchte auf einmal eine fünfte Hand in der Wunde auf. Wir sind zuerst dermaßen erschrocken, es war der Patient, der uns mit seiner linken Hand helfen wollte!

Makaber. Als Neurochirurg war dann aber Schluss mit lustig?

Auf keinen Fall! Als Oberarzt hatte ich oft grandiose Assistenten und OP-Pfleger und Schwestern an meiner Seite. Wir waren wie eine Familie. An einen lustigen Fall erinnere ich mich besonders: Ich habe einen Mann mit einem Hydrocephalus, umgangssprachlich Wasserkopf, operiert. Das heißt in seinem Kopf staute sich aus unbekanntem Grund die Hirnflüssigkeit, eine bedrohliche Situation, der Druck im Schädel steigt. Das Gehirn kann dadurch irreparabel geschädigt werden. Ein Eingriff in einem anderen Krankenhaus hatte keine Besserung gebracht.

Bis jetzt hört sich das wenig lustig an …

Ich drang mit dem Endoskop in sein Gehirn ein, um das zu finden, was verhinderte, dass die Spinal-Flüssigkeit im Gehirn des Patienten zirkulieren konnte. Plötzlich stieß ich auf eine Art Membran. Ich zog sie heraus. Weil ich keine Ahnung hatte, um was es sich handelte, gab ich unbekannte Struktur zur Adhoc-Analyse ins Labor – es hätte zum Beispiel ein Tumor sein können. Wir warten im Operationssaal auf das Ergebnis, um dann zu entscheiden, wie wir weiter vorgehen würden. Plötzlich steckte der Pathologe den Kopf durch die Tür und rief aufgeregt: »Es ist nicht menschlich!« (lacht) Das klang schon sehr nach Science Fiction.

Und was war es?

Man muss dazu sagen, dass der Patient ein weißer, angelsächsischer Engländer war. Später stellte sich heraus, dass er drei Jahre zuvor in Simbabwe seinen Onkel besucht hatte. Dort hatte er sich wohl einen Parasiten eingefangen, der schließlich bis ins Gehirn des jungen Mannes vorgedrungen war. Es war eine totale Überraschung, denn in unseren Breiten gibt es solche parasitischen Würmer nicht. Den hatte ich ihm aus dem Gehirn gezogen. Der Pathologe hatte sich aber angehört, als hätten wir einen Alien in seinem Kopf gefunden. Wir haben sehr gelacht, natürlich auch, weil es eine erfolgreiche Operation war. Der Patient war geheilt, das war sehr schön.

Ist es eigentlich schön, Neurochirurg zu sein?

Neurochirurgie ist schön, weil man Angst hat. Wenn man operiert, ist das, als ob man in einen Dschungel geht oder einen hohen Berg besteigt. Chirurgie kann abhängig machen, weil sie so aufregend ist.

Das klingt eher nach der Suche nach dem Kick als nach Medizin?

(lacht) Es ist Bergsteigen für Feiglinge, weil man nicht das eigene Leben, sondern das eines anderen riskiert.

Zum 1. Mai sind Sie in den Ruhestand gegangen – vermissen Sie Ihre Arbeit?

Ich helfe meinem Nachfolger noch bei schwierigen Operationen und lehre junge Kollegen Neurochirurgie. Vor dem 1. Mai war ich nicht sicher, ob ich das Operieren vermissen würde – aber tatsächlich merke ich jetzt, dass ich gerne komplett aufhören würde. Als junger Chirurg, gibt es immer einen nächsten Gipfel, den man besteigen will. Aber am Ende seiner Karriere hat man die meisten Berge bestiegen. Man empfindet den Stress stärker im Gegensatz zum Hochgefühl nach einer erfolgreichen Operation. Ich will lieber zu früh aufhören als zu spät – es ist besser zu gehen bevor es heißt: »Er hat es nicht mehr drauf.«

ProfilReportagenPorträtsKontakt