»Die Leute zahlen dafür,
belogen zu werden«

NZZ am Sonntag 07.02.10
Der britische Buchautor und Psychiater Ben Goldacre kämpft gegen den Missbrauch der Wissenschaft in der Werbung und in den Medien. Aber auch in der Alternativmedizin erkennt er pseudowissenschaftliches und gefährliches Denken – zum Schaden der Patienten.


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Mr Goldacre, Sie haben eine Vollzeitstelle als Arzt, unterrichten Studenten und betreiben nebenher für Ihre Kolumne «Bad Science» im «Guardian» einen immensen Recherche-Aufwand, um die Öffentlichkeit über schlechte Forschung aufzuklären – sind Sie von Wissenschaft besessen?

ch denke nicht. Jeder, der sich etwas mit Forschung auskennt, regt sich auf, wenn in Werbung oder Medien wissenschaftliche Fakten völlig falsch dargestellt werden oder pseudowissenschaftlicher Unsinn verbreitet wird. Ich trage das nur in die Öffentlichkeit, statt in der Kaffeepause darüber zu schimpfen.

Worüber haben Sie sich so geärgert, dass Sie mit der Kolumne angefangen haben?

In Grossbritannien gab es eine mächtige Kampagne gegen die kombinierte Mumps-Masern-Röteln-Impfung, die viele ethische Grenzen überschritten hat. Ein Arzt hatte in einer völlig unzureichenden Studie eine Verbindung zwischen der Impfung und Autismus hergestellt. (Anm. der Red.: Die Studie wurde diese Woche von der Zeitschrift «The Lancet» zurückgezogen.) Daraufhin machten die Medien neun Jahre Panik, obwohl es Untersuchungen mit Tausenden Probanden gab, die den Verdacht widerlegten. Und dann gibt es noch den täglichen Mist: Viren, die als Bakterien bezeichnet werden, Ahnungslosigkeit über klinische Studien, erfundene Statistiken – ich wurde dazu geprügelt, die Kolumne zu schreiben.

Was ist Ihr Ziel?

Ich muss zugeben: Es macht mir zunächst Spass, zu zeigen, dass Leute, die sich wahnsinnig gross als Experten aufspielen, Idioten sind. Aber ich versuche auch, meinen Lesern etwas wissenschaftliches Denken für den Alltag mitzugeben. Ich nehme Behauptungen, die jemand im Fernsehen, in der Zeitung oder in der Werbung gemacht hat, und untersuche, was dran ist. In diesem Prozess zeige ich der Öffentlichkeit, wie Wissenschaft funktioniert. Das Herz der Wissenschaft ist nämlich, zu kritisieren.

Sie beschäftigen sich mit der Nahrungsergänzungsmittel-Industrie. In einem Beipackzettel eines Vitaminpräparats lese ich: «Der Zusammenhang von freien Radikalen und der Entstehung unterschiedlicher gesundheitlicher Störungen ist inzwischen unbestritten.

Das beruht auf einer längst veralteten Theorie. Freie Radikale sind sehr reaktive Moleküle, die zum Beispiel unsere Erbsubstanz schädigen können. Antioxidantien wie etwa die Vitamine C, E und A können freie Radikale im Reagenzglas binden und unschädlich machen. Vor zwanzig Jahren dachte man: Prima, dann wird es also gegen Krebs und Alterserscheinungen helfen, wenn man Antioxidantien schluckt. Heute wissen wir: So einfach ist es leider nicht. Antioxidantien können sogar das Krebsrisiko erhöhen.

Den Verbrauchern werden Pillen verkauft, die vorbeugend gegen Krebs sein sollen – und die in Wirklichkeit schädlich sind?

Wenn man sich alle wissenschaftlich sauberen Studien anschaut, die jemals zu Antioxidantien gemacht wurden – das umfasst 230 000 Menschen, an denen man vor allem den Effekt von Vitamin-A- und Vitamin-E-Tabletten untersucht hat –, dann zeigt sich, dass die Vitamingaben das Sterberisiko nicht etwa herabsetzen, sondern sogar erhöhen.

Das wäre ein Skandal!

Nahrungsergänzungsmittel sind längst nicht so gefährlich wie Tabak. Aber es ist schon bemerkenswert, dass Pillen, die bestenfalls wirkungslos und vielleicht sogar schädlich sind, von so vielen Menschen unkritisch geschluckt werden. Man sieht daran, wie überzogene Ernährungsideale missbraucht werden, um uns überteuerte Pillen anzudrehen. Die braucht man bestimmt nicht, um gesund zu leben. Bewegung, viel Obst und Gemüse, nicht rauchen, wenig Alkohol trinken, Übergewicht vermeiden, das sind die wichtigsten Zutaten für die Gesundheit.

Wie kommt es, dass der Glaube an die segensreiche Kraft der Antioxidantien so weit verbreitet ist?

Die Nahrungsergänzungsmittel-Industrie setzt weltweit 55 Milliarden Dollar pro Jahr um und hat eine enorme Vermarktungsmaschinerie. Sobald jemand Beweise veröffentlicht, dass die Produkte unwirksam oder sogar schädlich sind, reagieren die PR-Leute, indem sie mit Pseudoargumenten Kritik an den veröffentlichten Daten üben. Dabei gehen sie nach dem typischen Muster der Alternativmedizin-Branche vor.

Nämlich welchem?

Da es unmöglich ist, dass sie die Kritik an ihren Produkten vernünftig widerlegen, müssen sie die gesamte evidenzbasierte Medizin angreifen – das Verfahren also, durch das wir erfahren haben, dass Rauchen krebserregend ist! Sie ist eine der schönsten Erfindungen der letzten hundert Jahre, die Abermillionen Menschenleben gerettet hat. Quacksalber, Alternativmediziner und Impfgegner tun so, als sei es unmöglich, Beweise für den Sinn medizinischer Verfahren zu sammeln – und das hat schwerwiegende Folgen für das gesamte Gesundheitssystem.

Warum?

Beweise sind die beste Grundlage, um zu entscheiden, welche Behandlungen vom Gesundheitssystem bezahlt werden sollen und welche nicht. Ausserdem hat sich das Arzt-Patient-Verhältnis so geändert, dass wir mündige Patienten brauchen.

Was hat das mit den Strategien zu tun, die Sie den Lobbyisten im Gesundheitssystem vorwerfen?

Ärzte gehen heute ganz anders mit Patienten um als noch vor wenigen Jahrzehnten. Als meine Eltern Medizin studierten, bestand die kommunikative Ausbildung vor allem darin, wie man einem Patienten am besten verheimlicht, dass er bald an Krebs sterben wird. Der Arzt traf seine Entscheidungen, ohne den Patienten zu fragen. Wenn Sie heute einen Arzt aufsuchen, wird er mit Ihnen diskutieren, welche Therapien es gibt. Er wird argumentieren, warum wir wissen, dass die eine besser als die andere ist, damit Sie gemeinsam eine Entscheidung treffen können. Ich finde es traurig, dass Lobbygruppen mit der Verwirrung, die sie absichtlich schaffen, dieses kooperative Modell unterminieren.

In diesem Zusammenhang kritisieren Sie auch die Homöopathen – warum?

In diesem Zusammenhang kritisieren Sie auch die Homöopathen – warum?

Der Erfolg von Homöopathen zeigt, dass es einen Markt für diese altmodische Medizin gibt. Die Leute zahlen, um von einer vermeintlichen Autoritätsperson belogen zu werden. Die Patienten sind verwirrt, aber glücklich.

Aber wenn es hilft?

Man darf eines nicht vergessen: Der Placeboeffekt ist wirklich stark, und er ist eines der faszinierendsten Dinge in der Medizin. Wir wissen zum Beispiel, dass 4 Zuckerpillen effektiver ein Magengeschwür behandeln als 2! Und das ist eine sauber zu diagnostizierende Krankheit. Der Placeboeffekt beruht auf unserem Glauben an eine Therapie.

Was spricht gegen ein Placebo?

Wenn man jemandem ein Placebo gibt, muss man ihn anlügen. Ich persönlich könnte das nicht mit einem ruhigen Gewissen tun.

Aber wenn der Arzt genauso dran glaubt wie der Patient?

Dann haben wir ein ganz anderes Problem: die Ignoranz gegenüber Beweisen. Betrachtet man alle fairen Studien, die je über Homöopathie gemacht wurden, dann findet man, dass homöopathische Zuckerpillen nicht besser wirken als normale Zuckerpillen. Das ist keine Überraschung, denn sie unterscheiden sich von normalen Zuckerpillen nur dadurch, dass sie nach dem Verpacken zehnmal energisch zum Beispiel gegen ein Lederkissen geschlagen werden.

Entgegen vielen schulmedizinischen Verfahren hat die Homöopathie zumindest keine Nebenwirkungen.

Zuckerpillen schädigen niemanden direkt. Aber es gibt viele Nebenwirkungen. Es ist sehr gefährlich, wenn man Ärzte dazu bringt, dass sie aus einer Krankheit einen Einzelfall machen und die wissenschaftlichen Belege ignorieren. Wenn man Homöopathen im Glauben belässt, dass ihre Pillen magische Kräfte haben, bekommt man schnell folgende Situation: Ein Patient kommt zum Arzt und sagt, er fahre in eine Region, in der Malaria vorkommt, er möchte aber keine Prophylaxe-Medikamente einnehmen – und der Arzt gibt ihm homöopathische Zuckerpillen! Es gab Fälle, in denen Patienten deshalb fast an Malaria gestorben wären. Dazu kann es nur kommen, wenn Homöopathen von ihren eigenen Ideen berauscht sind und es nicht mehr schaffen, das Wichtige zu erkennen. Es geht nicht nur um Pillen in der Medizin.

Warum nehmen wir so gerne Tabletten?

Es gibt einen sehr tief sitzenden Trieb bei Menschen, mechanische Lösungen für Probleme zu finden, die eher soziale, kulturelle, politische oder persönliche Gründe haben. In Grossbritannien wurden Kindern an Problemschulen Fischöl-Kapseln gegeben, damit sie sich besser benehmen und bessere Leistungen in der Schule erzielen. Und ich frage mich: Jesus, denkt ihr wirklich, das Problem von schlechtem Benehmen und schlechten Leistungen von Kindern kann man mit einer Pille lösen?

Eine solche Argumentation wird man aber nicht von Homöopathen hören.

Das ist ein krasses Beispiel, aber im Prinzip funktioniert Homöopathie doch genauso: Für jedes Zipperlein gibt es Pillen. Das ist eben viel einfacher, als nach den wahren Ursachen von Problemen zu suchen.

Die Alternativmediziner werfen der Pharmabranche vor, dass sie genau dieses Denken schürt: gegen jedes Unwohlsein ein Medikament.

Pharmaunternehmen machen einige furchtbare Dinge. Sie halten Beweise zurück, verstecken missliebige Daten, führen Ärzte in die Irre darüber, welche Therapien gut sind und welche nicht. Viele Menschen haben ein ungutes Gefühl angesichts der ungeheuren Macht der multinationalen Arzneimittelkonzerne. Daraus leitet sich folgende Argumentation ab: Die pharmazeutische Industrie ist böse, dagegen helfen homöopathische Pillen – und das ist absoluter Unsinn. Die Alternativmediziner haben die gleichen Methoden. Das ist das wahre Verbrechen dieser Quacksalber: Sie tun so, als ob sie Rebellen seien – und in Wirklichkeit sind sie Geschäftsleute, die versuchen, ihr Zeug zu verkaufen. Sie lenken uns ab von der viel wichtigeren Kritik an der Pharmaindustrie.

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