»Dass
wir aussterben, ist unausweichlich«
NZZ
am Sonntag 03.08.08
Vor vier
Jahren entdeckte der Paläontologe Neil Shubin Tiktaalik, ein Mischwesen
aus Fisch und Amphibium. Hier erklärt der Amerikaner, was der Mensch
von dem ausgestorbenen Lebewesen geerbt hat und warum er bei der Arbeit
manchmal eine Waffe trägt.
Mr.
Shubin, Ihr neues Buch heisst «Der Fisch in uns» – wo
versteckt er sich?
Er
versteckt sich überhaupt nicht, er ist überall gut zu sehen,
wenn man weiss, wohin man schauen muss. Zum Beispiel stammen viele
der Muskeln, Nerven und Knochen, die ich jetzt gerade benutze, um
zu sprechen, von Kiemen-Strukturen ab. Die Nerven, die unser Sehen
und unser Riechen ans Gehirn vermitteln – alles ist wie beim
Fisch.
Uns
ist es geläufiger, dass wir Menschenaffen recht ähnlich
sind.
Wir
haben eine gemeinsame Geschichte mit allen Säugetieren, Reptilien,
Fischen, ja sogar mit Schwämmen und Quallen. In jedem Organ,
in jeder Zelle tragen wir das Erbe von 3,5 Milliarden Jahren Evolution.
Vor sieben Jahren habe ich das regelrecht gespürt. Ich kam als
Forscher an die Medical School in Chicago – und weil plötzlich
Lehrpersonal fehlte, musste ich den Anatomiekurs für die jungen
Medizinstudenten geben. Sie fragten mich: «Was für ein
Arzt sind Sie?» Sie dachten wohl, ich sei Chirurg, Pathologe,
was auch immer – und ich sagte: «Ich bin ein Fischpaläontologe.»
Waren die Studenten skeptisch?
Sie
fanden das ziemlich verrückt, aber es stellte sich heraus, dass
meine Vorbildung eine gute Grundlage war. Ich konnte mein Wissen über
Fische, Reptilien und Würmer benutzen, um eine Landkarte von
wichtigen Körperteilen zu zeichnen. Und es zeigte sich, dass
viele Mediziner auch so unterrichten. Ich aber begann für mich,
die tiefe Verbindung zwischen uns und dem gesamten Tierreich zu spüren.
Das
hört sich poetisch an – ungewöhnlich für einen
Naturwissen-schaftler.
Es
ist ästhetisch schön zu sehen, dass wir aus Teilen zusammengebaut
sind, die sich bei den restlichen Lebewesen auf unserem Planeten finden.
Ich bin mit meinen Eltern und Grosseltern verwandt, aber letztlich
sind, so seltsam es klingt, alle Vögel, Fische und Reptilien
in meinem Stammbaum vertreten – und so sollten sie auch behandelt
worden. Wir schaffen Monokulturen, holzen Regenwälder ab, Ölbohrungen
zerstören arktische Lebensräume. Wir vernichten Spezies
einfach nur dadurch, dass wir unser modernes Leben leben.
Als
Paläontologe sind Sie es doch gewohnt, dass Arten irgendwann
aussterben. Bedrückt Sie das überhaupt?
Die
Frage ist immer: Was ist natürlich, und was nicht? Wir Menschen
haben einen dramatischen Einfluss auf unsere Welt. Das Artensterben
besorgt mich sehr. Wir müssen alles tun, um die Vielfalt zu bewahren.
Paläontologen
denken in Zeiträumen von Millionen Jahren. Ist das nicht beklemmend,
wenn man seine eigenen, kümmerlich wenigen Jahre auf Erden vor
Augen hat?
Es
verhindert, dass man arrogant wird. Ich sehe mich als Teil dieser
langen Kette. Das hier ist meine Welt, alle Lebewesen gehören
zu meiner Familie. Ich finde das tröstlich.
Würden
Sie nach Ihrem Tod gerne ein Fossil werden?
Meine
Studenten sagen, ich sei jetzt schon eins! Nein, im Ernst: Die Chance,
dass Sie und ich eines Tages einmal Fossilien sein werden, ist sehr
gering. Wenn wir ein Fossil finden, dann ist das immer nur die Spitze
des Eisbergs. Es hat viel mehr Spezies gegeben und viel mehr Exemplare
der gleichen Art, die nicht fossiliert wurden - man muss am richtigen
Ort sterben. Von den meisten Arten bleibt gar nichts übrig. Leider
- es wäre schon lustig, wenn Generationen von Leuten einmal auf
mein Skelett starren würden und da hinge ein kleines Schildchen
dran: «Ein Mensch!»
Wird
die Menschheit aussterben?
Das
ist unausweichlich, nichts ist hier, um zu bleiben. Wenn ein Mensch
mit einer Zeitmaschine drei Millionen Jahre in die Zukunft reiste,
er würde keinen Artgenossen mehr finden.
Werden
wir länger auf dem Planeten sein als andere Arten?
Salamander
existierten schon vor 160 Millionen Jahren, das sind die wirklichen
Stars der Evolution. Uns gibt es seit fünf bis acht Millionen
Jahren – ich glaube nicht, dass wir so lange bleiben werden
wie die Salamander.
Ihr
wahrscheinlich bekanntester Kollege ist die Figur Ross Geller aus
der US-Sitcom «Friends», der seine Freunde mit abgehobenen
wissenschaftlichen Vorträgen nervt. Sind alle Paläontologen
so schrullig?
Ich
weiss es nicht. Jedenfalls traut sich niemand, mir das zu sagen. Ich
gehöre zu den wenigen Wissenschaftern, die bei ihrer Arbeit eine
Waffe tragen, niemand macht Witze über mich.
Sie
laufen mit einer Pistole über den Campus?
Nein,
nein. Nur wenn ich mit meinem Team in der Arktis Fossilien suche,
müssen wir uns notfalls gegen Eisbären schützen können.
Bis jetzt haben wir die Gewehre aber noch nicht benutzen müssen.
Fossilien
zu suchen, ist gefährlich – und einsam, wie Sie in Ihrem
Buch beschreiben. Hört sich nicht nach einem besonders verlockenden
Job an.
Ja,
es ist schon sehr einsam da draussen - aber es macht wirklich Spass.
Ich lebe die meiste Zeit des Jahres in einer Grossstadt. Dauernd klingelt
das Telefon, es gibt Internet, E-Mail, Fernsehen. Und dann reise ich
zu einem exotischen Ort. Stellen Sie sich vor, Sie stehen da und suchen
nach den Spuren ehemaligen Lebens - es ist friedlich und wunderschön.
Es gibt einfach nur dich und die Steine. Manche Menschen würden
wohl sagen, das sei unglaublich langweilig, besonders, weil man meistens
noch nicht einmal etwas findet.
Ist
das nicht frustrierend?
Doch,
manchmal hasst man es auch. Ich habe fünf Sommer mit meinem Team
in der Arktis verbracht, ohne die Fossilien zu finden, nach denen
wir gesucht haben. Damals war ich sehr deprimiert.
Aber
dann haben Sie eines der wichtigsten Fossilien überhaupt gefunden.
Ab
1999 waren wir jedes Jahr zur Ellesmere-Insel gefahren, gar nicht
weit entfernt vom Nordpol. Dort hatten wir eine Gegend ausgemacht,
in der 375 Millionen Jahre altes Gestein an der Oberfläche lag.
Das war exakt das Alter, in dem wir Tiere vermuteten, die den Übergang
vom Meer zum Land bewerkstelligt hatten. Wir suchten fünf Sommer
an den falschen Orten. 2004 war unsere letzte Chance. Es war klar,
dass uns niemand mehr Geld geben würde für eine weitere
Expedition. Am vierten Tag schlug mein Kollege Steve einen Stein auf – und
es starrte ihm die Schnauze eines Tieres entgegen: Tiktaalik. Ich
kann Ihnen gar nicht sagen, wie wunderschön dieser Moment war.
Was
ist das Besondere an Tiktaalik?
Er
hat einen flachen Kopf mit Augen obendrauf, er hat einen Hals, anders
als alle Fische - und innerhalb der Flosse gibt es etwas, das einem
Schultergelenk ähnelt. Gleichzeitig hat Tiktaalik Flossen und
Schuppen auf dem Rücken. Es ist eine Mischung aus Fisch und Amphibium.
Das Tier zeigt uns, wie einer der grossen evolutionären Schritte
abgelaufen ist: Tiktaalik eroberte das Land. Aber da steckt noch eine
andere Geschichte drin. Es zeigt uns etwas über den Fisch in
uns.
Das
müssen Sie erklären.
Vieles
von dem, was uns auszeichnet, hatte schon Tiktaalik. Jedes Mal, wenn
Sie Ihren Nacken bewegen, danken Sie Tiktaalik, dass er den Hals erfunden
hat.
Wie
hat Tiktaalik gelebt?
Er
lebte in einem langsam fliessenden Fluss, vergleichbar mit kleinen
Zuflüssen des Amazonas. Er war ein Tier von bis zu drei Metern
Länge – die grössten Exemplare müssen beängstigend
gewesen sein.
Er
war ein Raubtier?
Tiktaalik
war ganz klar ein Jäger: Er hatte viele kleine, scharfe Zähne
um das Maul herum – und innen sehr grosse. Man muss ihn sich ähnlich
vorstellen wie ein Krokodil mit Flossen: Ein flachköpfiges Tier,
das auf der Wasseroberfläche schwimmt, vielleicht manchmal auch
auf dem Grund des Flusses liegt und auf Beute lauert. Und er konnte
sich wohl ein paar Meter an Land bewegen, unterstützt durch seine
Gliedmassen.
Diese
Entdeckungen sind starke Beweise für die Evolutionstheorie,
ihr Buch ist voll davon. Haben Sie es als Antwort auf die Kreationismus-Debatte
in den USA geschrieben?
Das
ist nicht der Grund: Ich wollte damit einfach zeigen, wie toll es
ist, Wissenschafter zu sein. Aber das Buch ist natürlich voll
von Argumenten gegen den Kreationismus. Es war eine verrückte
Situation, gerade als dieses Gerichtsverfahren lief in Pennsylvania,
bei dem es darum ging, ob in Schulen Intelligent Design . . .
.
. . die Anschauung, dass ein höheres Wesen das Leben geschaffen
habe . . .
.
. . gelehrt werden soll, stand Tiktaalik auf meinem Schreibtisch.
Die Anwälte der Kreationisten sagten: Es gibt keine Fossilien
von Übergangsstadien, die die Evolution belegen! Ich hätte
ihnen so gerne wenigstens ein Foto von Tiktaalik geschickt. Aber wir
mussten zuerst die wissenschaftliche Veröffentlichung abwarten.
Allerdings war das Argument ohnehin Unsinn. Es gibt viele Fossilien
von Übergangsstadien, wie zum Beispiel Archäopteryx als
Mischung zwischen Reptil und Vogel.
Gewinnen
die Kreationisten in den USA die Oberhand?
Jedes
Mal, wenn Schulen Intelligent Design in den Lehrplan aufnehmen wollten,
haben Gerichte das verhindert - auf dieser Ebene hat die Vernunft
gesiegt. Weil in den Vereinigten Staaten Bildung sehr lokal ist, kann
es aber passieren, dass man durch ein Textbuch einer Highschool blättert
und da nichts von der Evolutionstheorie liest.
Besorgt
Sie das nicht?
Vielleicht
bin ich naiv, aber ich glaube an den Fortschritt. Die Beweise sprechen
für die Evolution, und das zählt. Wir sperren Verbrecher
ein auf Grundlage von Beweisen, wir glauben an beweisbare Theorien.
Es
gibt auch Menschen, die nicht so vernünftig sind.
Es
gibt natürlich immer Menschen, die wissenschaftliche Erkenntnisse
leugnen. Aber kein vernünftiger Mensch kann auf Dauer einen starken
Beweis ignorieren. Lassen Sie mich eine Geschichte erzählen.
Bitte.
Als
wir Tiktaalik gefunden hatten, war das in den USA in allen Nachrichten.
Der Lehrer meines Sohns fragte mich, ob ich ein Exemplar in die Vorschule
mitbringen könnte. Ich war ein bisschen skeptisch, ob die Kinder
verstehen würden, was das Besondere an ihm ist. Aber dann standen
sie im Klassenraum darum herum. Ein Mädchen sagte: «Das
ist ein Krokodil, schau auf seine Zähne!» Ein Knabe antwortete: «Nein,
es hat Schuppen und Flossen, es ist ein Fisch!» Und ein drittes
Kind sagte: «Das ist eine Mischung aus beidem.» Wie verrückt
ist das? Sechsjährige Kinder! Sie wussten nichts von Evolution,
von Diversität – und haben trotzdem sofort alles verstanden.
Das hat mir gezeigt, wie kraftvoll ein Beweis für unvoreingenommene
Menschen ist. Das war ein bewegender Moment für mich.
Wie
würden Sie einen Anhänger des Intelligent Design von der
Evolutionstheorie überzeugen?
Ich
würde ihn zuerst einmal fragen, ob er gerne Schluckauf hat.
Warum
das ?
Weil
wir den Schluckauf von den Amphibien geerbt haben. Er entsteht, wenn
eine Klappe im hinteren Teil des Rachens sich schliesst und wir gleichzeitig
scharf einatmen. Kaulquappen haben eine Lunge und Kiemen. Wenn das
Tier Wasser durch die Kiemen pumpt, darf das nicht in die Lunge kommen.
Deshalb muss die Klappe schnell geschlossen werden. Das macht der
Schluckauf – und der wird beim Menschen von den gleichen Nerven
kontrolliert wie bei der Kaulquappe. Der menschliche Körper ist
wunderbar, aber er ist wirklich nicht von einem intelligenten Designer
geschaffen. |