»Darwin
ist lustig«
Frankfurter
Rundschau MAGAZIN 19.06.06
Der Schriftsteller Daniel Kehlmann über den missverstandenen Schöpfer
der Evolutionstheorie, den Gegensatz von Poesie und Aufklärung und die
Debatte um Günter Grass.
Teil 1 Teil
2
Herr
Kehlmann, was wollten Sie werden, als Sie noch ein kleiner Junge
waren?
Ich wollte schon ziemlich früh Schriftsteller werden, das wusste ich, als
ich zwölf war, ungefähr.
Nach Ihrem Bestseller „Die Vermessung der Welt“, in dem
Sie sich den Wissenschaftlern Friedrich Gauß und Alexander von Humboldt
widmeten, haben Sie jetzt das Vorwort zu einer Neuauflage von Charles Darwins
Reisetagebuch „Die Fahrt der Beagle“ geschrieben. Das lässt
doch eher auf eine Begeisterung für Naturwissenschaften schließen.
Also gut, mit acht, neun Jahren wollte ich Astronaut sein.Vielleicht rührt
meine Begeisterung für die Wissenschaft noch daher. Aber ich glaube, die
meisten Jungen wollen irgendwann Astronaut werden.
Waren Sie als Schüler denn gut in Mathe, Physik und Biologie?
In der Schule wird man ja mit Rechenaufgaben gequält. Das konnte ich nicht
so gut, da habe ich immer Fehler gemacht. Und Naturwissenschaf-ten bestehen
ja zu einem großen Teil aus Mathematik. Trotzdem
waren meine Noten nicht schlecht.
Wie haben Sie das geschafft?
Durch Fleiß, Konzentration und Glück. Und auch ein wenig Betrug.
Waren Sie ein Musterschüler?
Ich war gut in der Schule, wie viele Schriftsteller. Die meisten geben es nur
nicht zu, weil es nicht gut klingt.
Es macht sich besser, wenn man zweimal sitzen geblieben ist?
Es klingt besser als: „Ich war ein guter Schüler.“
Sie haben einmal geklagt, dass es heute schick sei, mit seiner naturwis-senschaftlichen
Unkenntnis zu prahlen.
Es ist doch merkwürdig: Man kann in der Öffentlichkeit sagen, dass
man nicht weiß, was der Lehrsatz des Pythagoras und das Ohmsche Gesetz
bedeuten, und wird nicht abfällig angesehen. Wer aber sagt, er habe
den „Faust“ nicht gelesen, gilt zu Recht als Idiot. Dabei finden
die spannendsten Abenteuer des menschlichen Geistes heute in den Natur-wissenschaften
statt.
Was fasziniert Sie an den alten Naturforschern?
Bei Humboldt und Darwin war Naturwissenschaft noch Abenteuer. Humboldt fuhr
mit einem kleinen Boot durch Mückenschwärme den Ori-noko herunter,
Darwin versuchte auf den Galapagos-Inseln auf Riesen-schildkröten zu reiten.
Er war 22 Jahre alt, als er mit der „Beagle“ auf-brach. Und es war
in keiner Weise klar, ob er lebend zurückkommen würde. Er hätte
ohne weiteres mit dem Schiff untergehen können.
Rein statistisch wäre es wahrscheinlicher gewesen, dass er nicht zurückkommt.
Wenn das passiert wäre, würde sich die spannende Frage stellen: Wären
wir heute genau dort, wo wir jetzt sind, oder lägen die
Dinge vielleicht ganz anders? Das ist nicht zu beantworten, trotzdem sollte
man darüber nachdenken.
Wahrscheinlich hätte man mittlerweile herausgefunden, dass Menschen
und Affen gemeinsame Vorfahren haben.
Ich denke, wenn Darwin untergegangen wäre, hätte es 50 Jahre länger
dauern können, bis jemand die Evolutionstheorie entwickelt hätte.
Sehr vieles in der menschlichen Wissenschaftsgeschichte wäre dann ganz
anders verlaufen. Letztlich läuft es auf die Frage hinaus, ob es einen
zwangsläufigen menschlichen Fortschritt gibt oder ob sehr viel Zufall dabei
ist. Wir wollen alle gerne denken, dass dieser Fortschritt notwendig
ist. Aber, wer weiß? Wahrscheinlich sind Zufall und Glück mächtiger,
als man denkt.
Was ist für Sie die beeindruckendste Stelle in Darwins Reisebericht?
Seine Begegnung mit den „Wilden“ auf Feuerland.
Heute würde man diese Menschen so nicht mehr nennen, aber tatsäch-lich
waren sie sehr wild im Vergleich zu den gesitteten Engländern. Beim Lesen
spürt man Darwins Erschrecken, sein Erschauern vor dieser völligen
Fremdheit, vor diesen Menschen, die mit Fellen bekleidet und im Gesicht bemalt
sind, die seltsame Laute ausstoßen. Plötzlich stellt sich diesem
jungen, aus einem sehr gesetzten und bürgerlichen Leben kom-menden Mann
die Frage: Was ist einMensch? Es ist ein Erkenntnisschaf-fender Schreck. Man
spürt in diesem Moment, dass für Darwin der Begriff
„ Mensch“ eine solche Erweiterung erfährt, daß dieser
sich vom Tier gar nicht mehr so stark unterscheidet.
Glauben Sie mit Darwins Evolutionstheorie, dass alles Lebendige, auch die
kompliziertesten Organe, wie zum Beispiel das Auge, zufällig entstanden
ist?
Ganz ehrlich: Ich bin nicht sicher. Es ist wohl so gewesen, die Fakten sprechen
dafür, aber gleichzeitig fühle ich mich nicht befriedigt von dieser
Erklärung. Es gibt einen wunderbaren Satz bei Kant, in der „Kritik
der Urteilskraft“. Er besagt sinngemäß, dass der menschliche
Geist eben so beschaffen ist, dass, selbst wenn man das Entstehen von Leben
Punkt für Punkt als Kausalkette offen legen könnte, die Vernunft sich
immer noch nicht davon überzeugen lassen würde,
dass auch nur ein Grashalm zufällig entstanden ist.
Besonders in den USA weigern sich viele Menschen hartnäckig, an die Evolution
zu glauben. Dort wurde die Theorie des „Intelligent Design“ entwickelt,
derzufolge ein „Designer“ in die Naturgeschichte eingegriffen
haben soll. In einigen Bundesstaaten soll „IntelligentDesign“ in
den Schulen gelehrt werden.
Es ist völlig absurd, eine unwissenschaftliche These gleichwertig mit einer
wissenschaftlichen Theorie zu lehren. IntelligentDesign, wenn man es ernst nehmen
wollte, kommt ja nicht über die Behauptung hinaus,
dass es irgendeine Form von ordnendem Prinzip gegeben haben muss. Aber es ist
lächerlich, daraus selbst eine wissenschaftliche Theorie machen zu wollen.
Glauben Sie an Gott?
Es gibt eine schöne Antwort von Hemingway, in „In einem anderen Land".
Jemand fragt den Erzähler: Glauben Sie an Gott? Und er antwortet: „Nachts.“ Ich
glaube nicht an den göttlichen Designer, wie ihn die Evolutionsgegner
gerne hätten. Gleichzeitig verstehe ich aber auch nicht die Empörung,
mit der Naturwissenschaftler darauf reagieren, dass Bischöfe und Theo-logen
diese These vertreten. Die Kirche muss das tun, sonst könnte sie doch zusperren. Papst
Johannes Paul II. hat 1996 die Evolutionstheorie anerkannt und festgelegt, die
Kirche solle sich auf das Metaphysische, die Seele, beschränken. Aber
es ist eine metaphysische Frage. Wenn der Mensch durch reinen Zufall entstanden
ist, also wenn es wirklich keine Form von ordnendem Prinzip gibt und niemand
diesen Zufall in irgendeiner Form gesteuert hat, dann ist der Mensch metaphysisch
gesehen ein nicht gewolltesWesen. EinWesen, das ebensogut da sein könnte
wie auch nicht. Wie soll denn die Kirche das hinnehmen?
Zurück zu Darwin: In Ihrem Vorwort bezeichnen Sie seinen Reisebericht
als brillante Literatur. Was macht ihn so lesenswert?
Seine Beschreibungskunst. Darwin schreibt sehr klar und bildlich, er verliert
sich nicht in Poesie. Gerade durch seine Sachlichkeit sieht man alles mit ihm,
durch seine Augen. Und er ist auch amüsant, weil er
seine Erlebnisse sehr trocken erzählt. Man ist gar nicht immer sicher,
ob er weiß, wie lustig das ist. Auch Humboldt war immer wieder sehr lustig,
ohne es zu merken. Das hat mich an beiden interessiert.
Diese ernsten europäischen Wissenschaftler, die so viel Fremdem gegenüber
stehen und es in diesem nüchternen, unbeeindruckten Ton beschreiben. So
entsteht Komik.
Keine Lektüre für Tierschützer allerdings. An einer Stelle
schreibt Darwin über ein Exemplar einer sehr seltenen Fuchsart: „Er
war so tief ver-sunken in die Beobachtung der Offiziere bei ihrer Arbeit,
dass ich ihm,
indem ich mich leise von hinten an ihn heranschlich mit meinem Geolo-genhammer
den Schädel einschlagen konnte. Dieser Fuchs, weniger klug als die Mehrzahl
seiner Genossen, steht nun im Museum der Zoologi-schen Gesellschaft.“
Es war eben noch nicht die Zeit der Tierschützer. Tierschutz wurde durch
Darwins Entdeckungen so nach und nach überhaupt erst denkbar. Als er seine
Reise begann, war ein Tier etwas vollkommen anderes als ein Mensch. Darwin hat
die Tiere erst zu unseren Verwandten gemacht. Und dieser Prozess ist noch lange
nicht beendet. Auch als Nicht-Vegetarier
bin ich fest davon überzeugt, dass man in 100 oder 150 Jahren kein Fleisch
mehr essen wird, weil die Erkenntnis, dass Tiere Rechte haben und uns nahe sind,
immer weiter fortschreiten wird.
Alexander von Humboldt, den Sie zur Romanfigur gemacht haben, war ein
Widersacher Darwins. Er schrieb, die zweitgrößte Beleidigung
des Menschen sei die Sklaverei, die größte die These, wir stammten
vom Affen ab.
Ja, den Satz habe ich verwendet in „Die Vermessung der Welt“ und
viele haben ihn für eine Unterstellung oder einen Witz gehalten, aber er
sagte das wirklich in einer Vorlesung. Für Humboldt waren die Tiere das
ganz Andere, er wollte diese Verwandtschaft nicht, genauso wenig wie Goethe
sie gewollt hätte. Für ihn war das eine gefährliche und unsinnige
Mode-Idee.
Trotz ihrer unterschiedlichen Standpunkte haben Darwin und Humboldt sich einmal
getroffen. Das war eine große Enttäuschung für Darwin. Er hat
Humboldt vergöttert, hatte seine Weltreise überhaupt nur angetreten,
weil er so beeindruckt war von Humboldts Reisebericht. Als er Humboldt dann
wirklich begegnete,war der schon ein alter Herr. Darwin empfand ihn als geschwätzig
und unzugänglich. Humboldt hat das Genie Darwins überhaupt nicht erkannt.
Wer von beiden war der Wichtigere?
Beide waren wichtig, aber Darwins Entdeckungen hatte weitaus größere
Auswirkungen. Humboldt ging hinaus, sammelte Steine, Pflanzen, Mess-werte. Intuitiv
konnte er seine Beobachtungen zu einemGesamtbild zu-sammenfügen. So hat
er sehr wichtige Entdeckungen gemacht: die Klimazonen der Erde und den Humboldtstrom
zum Beispiel. Aber
er fand kein einziges Gesetz. Er hat sich mit Elektrizität beschäftigt,
aber wir messen in Volt und Ampere, und nicht in Humboldt. Er blieb
immer
ein Sammler und ein Empiriker. Darwin dagegen hat die Biologie, letztlich
unser gesamtes Weltbild, revolutioniert. Er sieht die unterschiedlichen
Schnäbel der verschiedenen Finken-Arten auf Galapa-gos, erkennt, dass sie
alle von einem Ur-Finken abstammen – und schließt daraus, dass alle
Arten, auch derMensch, sich aus anderen Arten entwickelt haben – die Evolutionstheorie. Eine
so gewaltige Abstraktionsleistung, wie sie vor ihm noch kein Biologe vollzogen
hatte.
Hat die Welt durch Aufklärer wie Darwin etwas verloren?
Magie.
In vielfacher Hinsicht. Die berechnete Welt ist eine unpoetischere
Welt, eine Welt, die ärmer ist an Geheimnissen, an Rätseln,
auch an
Schönheit. Und das ist der Preis, den wir für die Aufklärung
zahlen, für den menschlichen, geistigen und technischen Fortschritt.
Darwin sagte, er sei im Alter blind geworden für die Schönheit
der Natur.
Das ist schon merkwürdig. Es scheint, dass diese ungeheure Abstrakt-ionsleistung
auch mit Darwin etwas angestellt hat, dass sie ihn selbst in gewisser Weise
beschädigt hat. Er selbst hatte jedenfalls dieses Gefühl. Ich finde
das faszinierend und auch bestürzend.
Darwin ist als kauziger Typ Ihrem Romanhelden Friedrich Gauß sehr ähnlich.
Tatsächlich gibt es eine Episode aus Darwins Leben, die ich, wenn ich sie
früher entdeckt hätte, vielleicht gestohlen hätte für meinen
Gauß. Darwin hat sehr sorgfältig abgewogen, ob er heiraten soll. „Ein
Heim und jemand, der das Haus besorgt. Das Anziehende von Musik und weiblichem
Geplauder. Diese Dinge sind gut für die Gesundheit.“ Das sind für
ihn die Vorteile der Ehe. Aber er sieht auch Nachteile. „Wie wäre
es möglich, meiner Arbeit nachzugehen, wenn ich gezwungen wäre, täglich
mit meiner Frau spazieren zu gehen?“ Schließlich hat er sich dann
doch für die Ehe entschieden.
Hatten Sie auch einmal überlegt, Darwin zum Protagonisten in Ihrer „Vermessung
der Welt“ zu machen?
Das wäre sicher möglich gewesen, aber für mich war wichtig, dass
beide Hauptpersonen Deutsche sind. Weil es nur so ein komödiantisches Buch
über Deutschland werden konnte. Und das war auch mein persönlicher
Zugang zu den beiden. Humboldt reist als Deutscher um die Welt. In diese Situationen
konnte ich mich sehr stark hineinempfinden, dieser Zugang hätte mir bei
Darwin, der zwar aus einer ähnlichen, aber doch anderen Kultur kommt, gefehlt.
Darwins Lehre wurde nach seinem Tod missbraucht. Die Nazis propa-gierten
den Sozialdarwinismus, der Stärkere überlebt. Wie müssen wir
Darwin heute lesen?
Dass nur der Stärkere überlebt, gilt nicht für den Menschen.
Denn der ist, wie Kant schreibt, ein „Bürger zweier Welten“,
eben auch ein moralisches Wesen, das nicht auf seine Physis reduziert werden
darf. Der Sozialdarwinismus reduziert die Schwächeren zu Mitteln, dagegen
sträubt sich unsere moralische Vernunft, das kann und darf sie nicht akzeptieren.
Der Sozialdarwinismus ist auch aus biologischer Sicht nicht haltbar.
Der Stärkste ist nach Darwin derjenige, der die meisten Nachkommen
hat.
Stimmt, ja. Da war Hitler selbst nicht gerade erfolgreich.
Stimmt es, dass viele der Verwandten Ihres Vaters während der Nazi-Diktatur
umgebracht wurden?
Ja. Meine Großeltern väterlicherseits waren getaufte Juden, das klas-sische
assimilierte, europäische jüdische Bürgertum, und bis auf meinen
Vater und seine Schwester, deren Eltern und wenige Verwandte, ist
die gesamte Familie umgebracht worden.
Wie hat Ihr Vater mit seinen Eltern überlebt?
Auf einem Weg, der erstaunlich selten beschritten wurde – Dokumenten-fälschung.
Entgegen dem Klischee waren sehr viele Leute in der NS-Hierarchie bestechlich.
Mein Großvater hat alles, was er hatte, für diese Bestechungen aufgewendet
und er hat es so geschafft, sowohl sich als auch seine Frau nachträglich
zu Halbjuden zu machen. Und man wusste ja, die Nazis haben sich die Ermordung
der Halbjuden für die Zeit nach dem Krieg aufgehoben, und dazu kam es dann
nicht mehr. Jede Woche, das hat mir mein Vater immer wieder erzählt, kam
ein hochrangiger NSDAP-Mann und holte sich ein antikes Möbelstücke
ab. Trotzdem wurde mein Vater kurz vor Kriegsende noch verhaftet. Er war drei Monate in Maria-Lanzendorf,
in einem Lager in der Nähe von Wien. Mein Vater war
schon vorgemerkt für den Transport in denOsten, wahrscheinlich sogar nach
Auschwitz. Aber bevor es dazu kam, war der Krieg zu Ende.
In der „Vermessung der Welt“ lassen Sie Humboldt über die Azteken
sagen: „So viel Zivilisation und so viel Grausamkeit. Was für eine
Paarung! Gleichsam der Gegensatz zu allem, wofür Deutschland steht.“
Eine ironische Stelle natürlich, es gibt ja immer wieder diese Anspielungen
in dem Buch auf das Unheil des Nationalismus, das am Horizont heraufzieht. Gerade
deswegen habe ich mich ja immer dagegen verwahrt, dass ausgerechnet mein Roman
als Beleg dafür genommenwird, dass das Große in der deutschen Geschichte
es uns erlauben soll, die NS-Zeit zu relativieren.
Günther Grass hat mit seinem Bekenntnis, als 17-Jähriger bei der
Waffen-SS gewesen zu sein, Bestürzung hervorgerufen. Wie sehen Sie die
gegenwärtige Debatte um den Literatur-Nobelpreisträger?
Ach, das wird jetzt schon genug kommentiert. Da muss ich nicht auch noch eine
Verurteilung oder eine Verteidigung äußern.
Müssen wir Grass jetzt anders lesen?
Vielleicht wird man ihn anders lesen. Aber aus seiner frühen Begeisterung
für den Nationalisozialismus hat er nie ein Hehl gemacht, insofern verändert
sich die Perspektive auf die Romane nicht. Man weiß einfach noch nicht
genug. Mich würde allerdings interessieren, wie es möglich war, dass
das all die Jahre kein Biograf und kein Journalist herausgefunden hat. Das
ist das eigentlich Unheimliche, das Rätsel in dieser Geschichte.
Würde Sie die NS-Zeit als Roman-Thema reizen?
Ich finde, es gibt zu viele mittelmäßige Bücher über die
NS-Zeit. Wenn man über die NS-Zeit schreibt, hat man die moralische Verpflichtung,
es
außergewöhnlich gut zu machen. Also ehrlich gesagt, ich traue mich
künstlerisch noch nicht an dieses schwerste Thema heran.
Sie sind in München geboren, leben aber seit Ihrem zweiten Lebensjahr
in Wien: Fühlen Sie sich als Deutscher oder als Österreicher?
Wenn man Deutscher und Mexikaner oder Österreicher und Peruaner wäre,
wäre es sicher eher möglich, sich gespalten zu fühlen. Die Kulturen sind
einander doch schon sehr nahe und der Unterschied zwischen Wien und Berlin ist
nicht größer als der zwischen Berlin und München. Ich fühle
mich zurzeit eigentlich eher und lieber als Deutscher. Ja, trotz all dem, worüber
ich mich gerne lustigmache in diesem Land, bin ich ganz gerne Deutscher.
Haben Sie ein preußisches Arbeitsethos?
Niemand, der Romane schreibt, kann ganz ohne Disziplin arbeiten. Man kann ohne
Disziplin Gedichte und Theaterstücke schreiben...
Was ist daran anders als beim Romanschreiben?
Weil es schnell geht. Man kann in einem Moment der Inspiration zwei oder drei
geniale Gedichte hinwerfen und dann wieder für einige Monate nichts schreiben
und so eine Existenz als großer Lyriker führen. Man kann aber nicht
in einem Moment genialer Inspiration mal schnell einen Roman hinwerfen. Im Grunde
habe ich aber nicht das Gefühl, sehr fleißig zu sein. Seit ich mit „Die
Vermessung der Welt“ fertig bin, und das war immerhin Ende 2004, habe ich noch nichts Neues angefangen. Schriftsteller ist ein Beruf,
bei dem man sehr vieles andere tut als schreiben, und sei es nur herumsitzen,
fernsehen und Geschirr abwaschen.
Das hört sich verlockend an.
Ja, kein schlechter Beruf. Ich kann ihn nur empfehlen. |